Nobelpreisträgerin schildert Russlands grausame Folter-Praxis – sie fordert Frauen bei Ukraine-Verhandlungen
Oleksandra Matwijtschuk dokumentiert Russlands Kriegsverbrechen. Der FR schildert sie erschütternde Fälle – und nennt Forderungen für die Verhandlungen.
München – Auch Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk ist vergangenes Wochenende zur Sicherheitskonferenz nach München gereist. Die Menschenrechtlerin hat mit ihrer Organisation „Center for Civil Liberties“ Zehntausende russische Kriegsverbrechen dokumentiert.
Im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau fordert Matwijtschuk einen stabilen und nachhaltigen Frieden. Das verlange „echte Sicherheitsgarantien“, im Idealfall der gesamten demokratischen Welt. Denn Wladimir Putin, so Matwijtschuk, wolle weiterhin die gesamte Ukraine besetzen, er träume von der Wiedererrichtung des „russischen Imperiums“. Wie faire Verhandlungen laufen könnten, erklärt sie im Interview – und schildert kämpferisch das Leid und die Hoffnungen der Menschen im Ukraine-Krieg.
Ukraine-Verhandlungen: „Wir sollten zuerst über Menschen sprechen“
Frau Matwijtschuk, alle Aussagen aus den USA – und wohl auch die Lage im Krieg – deuten darauf hin, dass Russland nach einem Waffenstillstand weiter ukrainische Gebiete besetzt halten wird. Warum warnen Sie davor so eindringlich?
Ein Beispiel ist das Schicksal von Kindern in der Besetzung. Es leben 1,6 Millionen ukrainische Kinder in russisch besetzten Gebieten. Diese Kinder sind einer vollständigen Indoktrinierung und Militarisierung ausgesetzt, vom Kindergarten an aufwärts. Sie bekommen russische Lehrbücher, in denen es die Ukraine nicht gibt, sie dürfen nicht Ukrainisch sprechen. In sogenannten Sport- und Bildungscamps lernen sie, dass sie russische Kinder seien. Und sie werden mit russischen Uniformen und Waffen ausgestattet. Auf diese Weise bereitet Russland eine neue Generation Soldaten für das russische Imperium vor. Verbrechen gegen Kinder sind immer eine rote Linie.

Aber was tun, was ist Ihre Folgerung?
Dass wir darüber in diesen Verhandlungen nicht schweigen können. Genauso wenig wie über 20.000 Kinder, die nach Russland deportiert wurden – buchstäblich gekidnappt. Sie sollen in russischen Familien als Russen aufwachsen. Als Menschenrechtsanwältin denke ich, dass wir die Unterstützung anderer Länder und Zivilgesellschaften brauchen, um diese menschliche Dimension an den Verhandlungstisch zu bringen. Es ist wichtig, über Politik zu debattieren. Aber wir sollten zuerst über Menschen sprechen. Deshalb müssen auch Frauen an den Verhandlungen teilnehmen. Dort sitzen nur Männer.
Warum ist das aus Ihrer Sicht so wichtig?
Aus wissenschaftlichen Daten wissen wir, dass Frauen am Verhandlungstisch stärker dazu tendieren, die menschliche Dimension einzubringen. Und das ist essenziell, wenn wir über einen nachhaltigen Frieden sprechen.
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Wie sehr hat es die Ukraine erschüttert, dass zunächst sogar nur Putins und Trumps Vertreter verhandeln sollen?
Sie wissen, dass wir unsere Unabhängigkeit nach dem Ende der Sowjetunion wiederhergestellt haben. Wir waren über Jahrzehnte Teil des russischen Imperiums, aber wir haben nicht aufgegeben. Unter den Unterdrückten, in Gulags verfrachteten Menschen waren enorm viele Ukrainer. Wir haben also ein starkes Empfinden für Menschenwürde und einen großen Wunsch nach Freiheit. Jetzt bezahlen wir den größtmöglichen Preis allein für eine Chance auf Unabhängigkeit, für eine demokratische Wahl. Es ist uns sehr ernst, denn wir sterben für diese Chance, und wir verdienen es, gleichberechtigt behandelt zu werden.
Besteht diese Option?
Wir sprechen nicht aus einer Position der Schwäche! Denn, Entschuldigung, vor drei Jahren war nicht nur Putin, sondern waren auch all unsere internationalen Partner überzeugt, dass die Ukraine keine Chance habe, sich Russlands Angriff zu widersetzen. Aber wir haben es geschafft. Ich will sagen: Die Menschen in der Ukraine, vor allem die Zivilgesellschaft, wollen dabei sein, wenn über unsere Zukunft gesprochen wird.
Wir haben keine Zeit! In russischen Gefängnissen sterben Menschen unter diesen Umständen.
Bereits Ende Januar haben Sie zusammen mit der russischen Organisation Memorial einen Austausch aller Gefangen gefordert. Warum ist das so bedeutsam?
Ich habe mit Hunderten Menschen gesprochen, die die russische Gefangenschaft überlebt haben; Männer und Frauen, Zivilisten und Soldaten. Sie haben mir grauenerregende Geschichten erzählt. Sie haben mir erzählt, wie sie geschlagen, vergewaltigt und in Holzkisten geworfen wurden. Ihnen wurden Finger abgeschnitten, Fingernägel gezogen. Ihnen wurden Elektroschocks über die Genitalien verabreicht. Eine Frau erzählte mir, dass ihr das Auge mit einem Löffel aus dem Schädel gedrückt wurde. Menschen berichten mir, dass sie nur während Verhören einen Arzt sehen durften – und dessen einzige Aufgabe war es, die Opfer für weitere Folter und Vergewaltigung wieder zu Bewusstsein zu bringen. Es ist klar, dass einige Menschen so etwas nicht überleben können. Aber lassen Sie mich eine persönliche Geschichte erzählen.
Ukraine-Friedensverhandlungen: „Ein richtiger Prozess kann zum richtigen Ergebnis führen“
Bitte.
Ich hatte eine Freundin, eine junge Journalistin. Sehr talentiert, sehr mutig, sie hat einen internationalen Medienpreis für ihre Arbeit erhalten, ihr Name war Viktorija Roschtschyna. Sie ist in die besetzten Gebiete gefahren, weil sie es als ihre journalistische Pflicht ansah, von dort zu berichten. Über Monate war sie verschollen. Dann haben wir herausgefunden, dass sie unter falschen Anschuldigungen in einem russischen Gefängnis sitzt. Im September ist Vika gestorben. Russland weigert sich nach wie vor, ihren Leichnam herauszugeben. Ganz offensichtlich, weil ihr Körper etwas über die Todesursache preisgeben würde. Deshalb: Wir haben keine Zeit! In russischen Gefängnissen sterben Menschen unter diesen Umständen. Darum diese Kampagne.
Gibt es eigentlich eine dauerhafte Zusammenarbeit mit Memorial in Russland, dem Krieg zum Trotz?
Nicht nur mit Memorial. Wir stehen täglich in Verbindung mit verschiedenen russischen Menschenrechtsgruppen. Es gibt Abertausende illegal inhaftierte Zivilisten in Russland. Zu wissen, wo sie sind, ihnen wenigstens ein bisschen Hilfe zu gewähren, ist nur aufgrund dieser Verbindung mit diesen tapferen Menschenrechtskollegen möglich. Und ich bin ihnen sehr dankbar für ihre Aufrichtigkeit, ihren Mut und ihre Aufopferung für die Werte der Menschenrechte.
Eines Ihrer Hauptthemen sind die verheerenden Folgen der russischen Besatzung für die Menschen vor Ort. Lässt sich noch verhindern, dass Russland einige der ukrainischen Gebiete behalten wird?
Meine Aufgabe ist nicht, die Zukunft vorherzusagen. Meine Aufgabe ist, hier und jetzt alles für ein besseres Szenario für die Menschen in der Ukraine und für Frieden in der Region zu tun. Die Zusammensetzung der Verhandelnden wird entscheidend sein. Europa muss präsent sein, die Ukraine muss ein Akteur sein. Die Zivilgesellschaft muss vertreten sein. Und insbesondere Frauen. Wir haben 81.000 Kriegsverbrechen dokumentiert, dahinter stehen menschliche Schicksale. Ihre Stimme müssen wir repräsentieren. Ein richtiger Prozess kann zum richtigen Ergebnis führen.
Ukraine in Russlands Bombenhagel: „In anderen Ländern bricht das Leben zusammen, wenn Schnee fällt“
Bei unserem letzten Gespräch habe ich Sie nach der Lage der Menschen in der Ukraine gefragt. Wie geht es den Ukrainerinnen und Ukrainern jetzt, fünf Monate später?
Es ist sehr schwer, für so lange Zeit in einem großangelegten Krieg zu leben. Und es ist sehr klar, dass sich die Stimmung vieler Menschen verändert, denn Russland nutzt Kriegsverbrechen und Kriegsmethoden, die mit Zivilisten mit voller Absicht Leid und Schmerz zufügen. Gerade erst wurde meine Heimatstadt Kiew bombardiert. Schon das Lesen der Nachrichten kann traumatisierend wirken. Aber ich denke, die Ukrainerinnen und Ukrainer sind widerstandsfähiger, als es von außen scheinen mag.
Wie zeigt sich das?
Wir leben unter konstantem Beschuss, unter Elektrizitätsmangel, weil Russland bewusst die Energieinfrastruktur zerstört. Aber die Banken arbeiten, die Universitäten arbeiten, die Theater und Cafés haben geöffnet. In manchen europäischen Ländern bricht das öffentliche Leben zusammen, wenn Schnee fällt. Also, offen gesagt: Wir sind nicht perfekt – aber zeigen Sie mir jemanden, der mehr Widerstandskraft zeigt als die Ukraine. (Interview: Florian Naumann)