Mascha Schilinski begeistert mit ihrem Drama „In die Sonne schauen“, das am 28. August 2025 in die Kinos kommt. Im Sommer räumte sie damit in Cannes ab. Folgen nun die Oscars?
Sie ist der neue Star am deutschen Kino-Himmel: Die Berliner Drehbuchautorin und Regisseurin Mascha Schilinski wurde bei der Weltpremiere ihres zweiten Spielfilms „In die Sonne schauen“ bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes als sensationelle Entdeckung gefeiert – just an ihrem 41. Geburtstag. Mit Anfang 20 war sie noch als Zauberkünstlerin mit einem Zirkus durch die Lande gezogen (vollständige Biografie: siehe Kasten unten). Bei den Dreharbeiten zu „In die Sonne schauen“ im Sommer 2023 hatte sie ihre siebenjährige Hauptdarstellerin Hanna Heckt mithilfe einer magischen Dusche jeden Tag in ihre Filmfigur verwandelt. Und nun bezauberte sie mit ihrem Film die Wettbewerbsjury in Cannes derart, dass sie mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Im Mittelpunkt von „In die Sonne schauen“ stehen vier Mädchen, die in unterschiedlichen Jahrzehnten auf demselben Bauernhof in der Altmark aufwachsen und auf rätselhafte Weise miteinander verbunden scheinen. Am 28. August 2025 kommt das Generationendrama in die Kinos, anschließend geht es für Deutschland ins Rennen um den Oscar für den besten internationalen Film. Anlässlich der Deutschlandpremiere des Films beim Münchner Filmfest trafen wir Mascha Schilinski zum Gespräch im Bayerischen Hof.
Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem außergewöhnlichen Film?
Meine Co-Autorin Louise Peter und ich haben uns schon länger mit ganz feinstofflichen Fragen beschäftigt und wussten nicht, wie wir denen filmisch nachlauschen können. Durch den Vierseitenhof in der Altmark, der später auch unser Drehort wurde, hatten wir plötzlich das Gefühl, ein filmisches Gefäß gefunden zu haben. Wir hatten uns im Corona-Sommer 2020 dorthin zurückgezogen, um an verschiedenen Drehbüchern zu schreiben. Der Hof war seit Jahrzehnten unbewohnt und unberührt gewesen; beim Durchstreifen der Räume spürte man die Jahrhunderte, und beim Prokrastinieren malten wir uns aus, wer dort früher einmal gelebt hatte. Wir fanden ein Foto aus den 1920er-Jahren: Da standen, umringt von Hühnern, drei Frauen auf dem Hof, der genauso aussah wie heute, und schauten direkt in die Kamera. Ihr Blick hat uns tief getroffen. Wir fragten uns: Wer waren diese Frauen? Und dann fingen wir an zu recherchieren.
Was haben Sie herausgefunden?
Unter anderem sind wir in historischen Büchern über die Altmark, in denen mehr oder weniger ein verlorenes Kindheitsparadies geschildert wird, auf ein paar verstörende Halbsätze gestoßen. Da wird zum Beispiel ganz pragmatisch beschrieben, wie man die Wäsche zusammenlegt oder die Hühner füttert, und dann wird im selben nüchternen Ton angefügt, die Mägde müssten erst so gemacht werden, dass sie für die Männer ungefährlich seien.
Heftig! ein Wunder, dass es auch in Ihrem Film ein paar drastische Szenen gibt.
In unserem Film sehen sich die Protagonistinnen in vier verschiedenen Epochen mit diversen Formen von Gewalt konfrontiert. Dabei hat uns vor allem interessiert, inwieweit Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden – und was für Spuren die Erlebnisse unserer Vorfahren in unseren Körpern hinterlassen. Der Film möchte sozusagen eine Ahnung von unseren Ahnen erzeugen.
In Ihrem Film findet sich auch immer wieder Humor.
Ja, das war uns sehr wichtig. Denn ich weiß zum Beispiel aus Erzählungen meiner Großmutter, dass sogar in finstersten Zeiten witzige Dinge passieren, die später in unseren Erinnerungen ebenso präsent sind wie gewisse Grausamkeiten.
„In die Sonne schauen“ verzichtet auf ein klassisches Handlungsgerüst und enthält nur wenige Dialoge. Sie setzen vielmehr auf sinnliche, atmosphärische, flirrende Bilder und ein ausgeklügeltes Sounddesign.
Ja, ich selbst habe Sehnsucht nach sinnlichen Kinoerlebnissen – und zwar nicht nur für Augen und Ohren: Im Idealfall sollte man im Kinosaal den Eindruck haben, dass man eine Textur spüren oder einen Geruch wahrnehmen kann. Mir geht es darum, in jeder Szene eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. Und ich empfehle dem Publikum bei diesem Film, dem Rat des französischen Regisseurs Robert Bresson zu folgen: einen Film zu fühlen, bevor man versucht, ihn zu verstehen. Wahnsinnig gern hätte ich auf analogem Filmmaterial gedreht; ich wollte diese Haptik, das Körnige, das Dreckige – aber das war aus finanziellen Gründen nicht möglich.
Biografisches zu Mascha Schilinski
Mascha Schilinski wurde 1984 in West-Berlin als Tochter einer deutschen Filmemacherin und eines französischen Bauarbeiters geboren. Schon als Schülerin stand sie in kleinen Rollen vor der Kamera. Sie brach das Gymnasium ab, arbeitete in einer auf Kinder und Jugendliche spezialisierten Casting-Agentur, schrieb Kurzgeschichten, erwarb das Fachabitur in Psychologie und absolvierte Praktika in diversen Bereichen der Filmbranche. Mit Anfang 20 reiste sie mehrere Jahre lang durch Europa. Dabei schloss sie sich unter anderem einem kleinen tierfreien italienischen Wanderzirkus an, in dem sie gemeinsam mit einem Zauberer eine Telepathie-Show aufführte. Nach Abschluss der Masterclass für Drehbuchschreiben an der Filmschule Hamburg arbeitete sie als Autorin, ehe sie Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studierte. Noch während ihres Studiums entstanden zwei international mehrfach preisgekrönte Filme: der Kurzfilm „Die Katze“ und der Kinofilm „Die Tochter“. Ihr zweiter Kinofilm „In die Sonne schauen“ gewann heuer beim Filmfestival in Cannes den Preis der Jury.
Verblüffend! Der Film sieht tatsächlich so aus, als hätte man ihn mit einer analogen Kamera aufgenommen.
Das verdanken wir unserem fantastischen Kameramann Fabian Gamper, der sehr lange experimentiert hat, um diesen Look hinzubekommen. Für mich war das essenziell: dieses Flirrende, Durchscheinbare, Zwielichtige, ähnlich wie in den geisterhaften Fotografien von Francesca Woodman. Der ganze Film sollte sich anfühlen wie ein Fiebertraum – als hätte sich ein Schleier über die Erinnerungen gelegt, so dass man nie sicher sein kann, ob das, was wir sehen, wirklich so passiert ist. Unser Gedächtnis ist ja auch trügerisch: Manchmal erinnern wir uns irrtümlich an Dinge, die in Wahrheit nie stattgefunden haben.
Wie haben Sie mit dem großen Ensemble gearbeitet? Konnten Sie lange proben?
Nein, dafür war wegen des knappen Budgets keine Zeit. Aber ich bin ein extrem visuell denkender Mensch. Das heißt, unser Drehbuch war äußerst detailliert und visuell geschrieben, eher wie ein Roman, so dass man bei der Lektüre immer ganz genau wusste oder spüren konnte, was dort später zu sehen sein würde. Außerdem hatten wir für jede Figur Tagebücher geschrieben, die wir den Betreffenden gegeben haben, zusammen mit inspirierendem Material, das wir bei der Recherche entdeckt hatten. Insofern waren wir alle zu Drehbeginn schon sehr gut vorbereitet.
Ist es nicht schwierig, mit so vielen jungen Protagonistinnen zu drehen?
Es ist allenfalls eine organisatorische Herausforderung, weil schulpflichtige Kinder und Jugendliche maximal drei Stunden pro Tag arbeiten dürfen. Aber ich liebe die Arbeit mit Kindern – vorausgesetzt, dass man sich vorher die Mühe gemacht hat, die richtigen zu finden: diese besonderen Kinder, die so eine große Spielfreude haben und ganz im Moment sein können. Ich liebe diese Spannung, dass man diesen einen Moment ermöglichen und erwischen muss, der sich nicht wiederholen lässt. Bei einem Projekt wie unserem ist es natürlich auch wichtig, sich mit komplexen Erwachsenenthemen der Welt eines Kindes so zu nähern, dass dessen Seele keinen Schaden nimmt.
Wie gelingt Ihnen das?
Um die intensiven Emotionen vor der Kamera abzufedern, hatte ich mir beispielsweise für unsere Hauptdarstellerin Hanna Heckt, die beim Dreh erst sieben Jahre alt war, ein Ritual ausgedacht: Jeden Morgen bekam sie aus meinen Händen eine imaginäre Dusche, mit der sie sich in ihre Filmfigur Alma verwandelte, und abends habe ich sie wieder auf dieselbe Weise „abgeduscht“, um sie zurückzuverwandeln. Wie gut das funktioniert hat, haben wir gemerkt, als wir das einmal vergessen haben – da mussten ihre Eltern auf dem Heimweg nach Hamburg auf halber Strecke umkehren und zurück zum Set, weil Hanna plötzlich rief: „O nein, ich bin noch Alma, so kann ich nicht ins Wochenende!“
Was wäre aus Ihnen geworden, wenn das mit der Laufbahn als Filmemacherin nicht geklappt hätte?
Alles Mögliche. Meine innere Identität ist überhaupt nicht mit einem Beruf verknüpft. Der Begriff „Beruf“ kam mir schon immer vor wie eine künstliche, seltsame Erfindung. Es gibt so vieles, was mich interessiert! Ich könnte mir zum Beispiel sogar heute noch vorstellen, eines Tages als Gärtnerin zu arbeiten. Wenn es nach mir ginge, könnte ich auch stundenlang eine Obstschale auf dem Tisch nach links oder rechts drehen und schauen, wie sie am schönsten wirkt. Also, wenn das ein Beruf wäre, dann wäre das vermutlich mein großer Traum! (Lacht.)