Er erfand den Beruf des Hardrock-Shouters: Stimmwunder Ian Gillan, der Sänger von Deep Purple, wird heute 80 Jahre alt.
Man kann ein harter Kerl und trotzdem ein Gentleman sein. So wie Ian Gillan. Bestaunen durften dies die Besucher des Konzerts von Deep Purple im vergangenen Herbst. Nachdem der Sänger in der Olympiahalle seine jahrzehntelang geschundenen Stimmbänder durch die Hardrock-Klassiker „Highway Star“ und „Into the Fire“ sowie den neuen Song „A Bit on the Side“ geprügelt hatte, sagte er: „Das waren also ein paar alte Calypso-Klassiker. Darf ich euch nun diesen zauberhaften jungen Mann vorstellen? Simon McBride!“ Er klopfte dem Band-Nesthäkchen (45) an der Gitarre auf die Schulter – und verschwand während des folgenden Solos hinter einem schwarzen Paravent. Vermutlich zu einer Tasse Earl Grey.
Plötzlich brüllte einen wie aus heiterem Himmel diese hohe Stimme an
Der Mann, der an diesem Dienstag 80 Jahre alt wird, versetzte Teenagern weltweit zum ersten Mal am 5. Juni 1970 einen Satz heiße Ohren. Nach Richie Blackmores brutal verzerrtem Gitarren-Intro folgt auf der LP „Deep Purple in Rock“ eine ganze Weile Jon Lords betuliche Karfreitags-Orgelei. Doch dann brüllt einen wie aus heiterem Himmel diese hohe Stimme an: „Good Golly said a-little Miss Molly!“ Gillan zitiert noch weitere Songs des Rock‘n‘Roll-Pioniers Little Richard, dann kommt der Refrain: „I‘m a Speed King! You gotta hear me singing!“
Das musste man wirklich gehört haben. Ian Gillan erfand mit seiner ungebremsten Art den Beruf des Hardrock-Shouters. Ozzy Osbourne klang bei Black Sabbath eher wie ein verirrter Knabe im E-Gitarren-Wald, was auch seinen Reiz hatte. Robert Plant krächzte bei Led Zeppelin bluesbasiert. Doch Gillan verausgabte sich mit seiner Fünf-Oktaven-Stimme komplett und dabei ungeheuer präzise. Die sich zur Kreisch-Orgie steigernde Anti-Kriegs-Ballade „Child in Time“ setzte Maßstäbe in Sachen Gesangsakrobatik. Sein Text zu „Smoke on the Water“ vom Feuer im Casino von Montreux ist Allgemeingut in den Übungsräumen aller Schüler-Bands.
Den Vertrag mit Black Sabbath unterzeichnete Gillan sturzbetrunken – und konnte sich hinterher nicht mehr daran erinnern
Ian Gillan wurde am 19. August 1945 in der Grafschaft Middlesex in eine musikalische Familie geboren. Sein Großvater war Opernsänger, sein Onkel Jazz-Pianist. Der Bub hatte keinen Gesangsunterricht, sang aber die Sopranstimme im Kirchenchor. Beseelt war er dann aber doch eher von Elvis und dessen „Heartbreak Hotel“ – von Beginn der Sechziger an machte er Musik. Deep Purple casteten ihn zusammen mit Bassist Roger Glover bei einem Konzert in einem Pub.
Von Anfang an gab es Reibereien mit der Diva in der Band: Der spiritistisch veranlagte Gitarren-Magier Blackmore konnte die Rolle des Frontmanns nur schwer abgeben. Der bodenständige Gillan dagegen ließ sich nicht unterbuttern. Das zeigt allein, dass er auf die Anfrage von Tim Rice und Andrew Lloyd Webber hin die Jesus-Rolle in „Jesus Christ Superstar“ annahm – und überzeugend ausfüllte. Gillan verließ Deep Purple 1973, genauso wie später Blackmore. Dabei zeigte er, dass er auch andere Talente besaß, managte eine Motorrad-Firma, führte einen Country-Club an der Themse.
Ganz ohne Musik ging‘s dann aber doch nicht. Gillan führte seine eigene Band – und wurde 1983 sogar Sänger bei den Kollegen Black Sabbath (er beerbte den Kollegen Ronnie James Dio). Wovon er allerdings erst mit Verspätung erfuhr. Sabbath-Bassist Geezer Butler hatte sich mit Gillan bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. In einem Interview mit dem „Spiegel“ erinnert sich der Sänger: „Tags darauf rief mein Manager Phil an: ,Ian, würde es dir was ausmachen, mich das nächste Mal vorher anzurufen, bevor du große Karriere-Entscheidungen triffst?‘ ,Was meinst du?‘, fragte ich verdutzt. ,Du bist seit gestern offiziell Mitglied bei Black Sabbath!‘.“
Die Streitereien mit Gitarrist Richie Blackmore gipfelten im berüchtigten „Spaghetti-Incident“
Seine wahre Liebe freilich ist Deep Purple. Die erste gefeierte Wiedervereinigung fand 1984 statt. Natürlich zerstritten sich Blackmore und Gillan gleich wieder. Nach einer abermaligen Reunion war das Tischtuch 1993 dann endgültig zerschnitten. Höhepunkt der Streitereien: Blackmore behauptete, Gillan habe ihm backstage Ketchup über seinen Teller Spaghetti gekippt. Der Gitarrist drückte dem Sänger die Pasta postwendend ins Gesicht. Stress, Knatsch & Rock‘n‘Roll...
Letztlich hat der bodenständige Mister Gillan sich dann aber doch nicht unterbuttern lassen. Nach Blackmores finalem Ausstieg machen Deep Purple mit neuen Gitarren-Magiern weiter – und einem definitiven Frontmann, und der heißt Gillan. Gemeinsam führen sie das Erbe der Band fort – und bringen regelmäßig respektable Alben heraus, etwa das „=1“ betitelte im vergangenen Jahr. Live auf der Bühne powern sie durch die alten Klassiker – mit einem Sänger, der vielleicht nicht mehr die ganz hohen Register erreicht („Child in Time“ spart er sich schon länger). Dafür aber nicht nur ein harter Kerl ist, sondern auch ein echter Gentleman.
Ein Dokument der Liebe
Der Hardrock und die Japaner – eine ganz besondere Liebesbeziehung. Gegen Ende der Siebzigerjahre gab es kaum eine Formation aus dem harten Fach, die nicht Live-Dokumente aus dem Land der aufgehenden Sonne auf den Markt warf: „Cheap Trick at Budokan“, „Tokyo Tapes“ von den Scorpions, etc. Den Anfang (und unbestrittenen Höhepunkt) machten Deep Purple schon 1972 mit „Made in Japan“, mit explosiven Versionen ihrer frühen Klassiker. Richie Blackmores atemberaubende Glissandi in „Highway Star“, Ian Gillans inbrünstige Schreie in „Child in Time“ schrieben Geschichte. Jetzt ist der Live-Klassiker wieder da – aufpoliert in einem Remix von Steven Wilson.