„Arbeit ist immer attraktiver“: Jobcenter-Chef räumt mit Vorurteil zum Bürgergeld auf

  1. Startseite
  2. Lokales
  3. Bad Tölz
  4. Bad Tölz

Kommentare

Das Bürgergeld ist umstritten. © Carsten Koall

Vor dem Kreis-Sozialausschuss räumt Jobcenter-Chef Fabian Wilhelm mit Vorurteilen zum Bürgergeld auf. Wer arbeite, habe „im Regelfall immer mehr“.

Bad Tölz-Wolfratshausen – Zu einer kleinen Exkursion brach der Kreis-Sozialausschuss am Ende seiner jüngsten Sitzung auf. Der Leiter des Jobcenters, Fabian Wilhelm, hatte die Lokalpolitiker in die Räumlichkeiten in der „Schnecke“ eingeladen, um die Angebote des Jobcenters vorzustellen. Dabei räumten er und seine Mitarbeiter auch mit dem einen oder anderen Vorurteil in Sachen Bürgergeld-Empfänger auf.

Etwas mehr Frauen als Männer beziehen im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen Bürgergeld

Das Jobcenter ist eine gemeinsame Einrichtung der Bundesagentur für Arbeit und des Landkreises. Letzterer trägt 15,2 Prozent der Verwaltungskosten. Alle wesentlichen Entscheidungen werden von den beiden Trägern im Rahmen der Trägerversammlungen getroffen. Diese setzt sich zusammen aus jeweils drei Vertreterinnen und Vertretern der Agentur für Arbeit und des Landkreises. 43 Mitarbeitende zählt das Jobcenter.

Der Kreis-Sozialausschuss besuchte das Jobcenter.
Der Kreis-Sozialausschuss besuchte das Jobcenter. © va

(Unser Bad-Tölz-Newsletter informiert Sie regelmäßig über alle wichtigen Geschichten aus Ihrer Region. Melden Sie sich hier an.)

1820 Bedarfsgemeinschaften sind beim Jobcenter gemeldet. „Ohne Ukrainer wären es etwa 1100 bis 1200“, sagte Martin Schneider vom Jobcenter. Die Kriegsflüchtlinge beziehen seit Juni 2022 keine Asylleistungen mehr, sondern rutschten nach einem Rechtskreiswechsel in die Zuständigkeit des Jobcenters. Bedarfsgemeinschaft ist ein etwas irreführendes Wort, denn sie besteht nicht immer aus mehreren Personen. Tatsächlich sind 56 Prozent der Bürgergeldbezieher Single. Mit 22 Prozent stellen die Alleinerziehenden die zweitgrößte Gruppe. 13 Prozent leben in einer Partnerschaft mit Kindern. Etwas mehr Frauen (54 Prozent) als Männer beziehen derzeit Bürgergeld. 19 Prozent der Bezieher sind unter 25 Jahre alt, 21 Prozent über 55. Durch den Rechtskreiswechsel sei der Ausländeranteil unter den Beziehern deutlich gestiegen, sagte Wilhelm. Er liege derzeit bei 58 Prozent.

Jobcenter-Chef räumt mit Vorurteil zum Bürgergeld auf: „Im Regelfall haben Sie immer mehr, wenn Sie arbeiten“

563 Euro bekommt ein alleinstehender Bürgergeldempfänger pro Monat. Dazu werden die Kosten der Unterkunft übernommen – allerdings nur bis zu einer von der Kreispolitik festgelegten Grenze. 560 Euro Miete sind das derzeit im Süden des Landkreises für einen Ein-Personen-Haushalt. „Im Regelfall haben Sie immer mehr, wenn Sie arbeiten“, räumte Wilhelm mit einem Vorurteil auf. „Arbeit ist immer attraktiver.“ Selbst wer für den Mindestlohn arbeite, aber alle ihm zustehenden Unterstützungsleistungen wie Wohngeld in Anspruch nehme, „dürfte ungefähr 500 Euro mehr im Monat haben“. Sabine Lorenz (CSU) war skeptisch. Sie habe von Fällen gehört, wo die Differenz gerade einmal 50 Euro betrage. Und dafür gehe niemand arbeiten. Natürlich gebe es Einzelfälle wie diese. „Aber ich warne davor, von Einzelfällen auf die Regel zu schließen“, sagte Wilhelm.

Aber die Zahl der Bezieher sei seit Einführung des Bürgergelds nach oben gegangen, argumentierte Vize-Landrat Thomas Holz (CSU). Wilhelm sieht das anders. Deutlich mehr Effekte hätten der Rechtskreiswechsel der Ukrainer und die allgemeine Rezession gehabt. Die Einführung des Bürgergelds habe bestenfalls „einen kleinen Effekt“ ausgelöst – vielleicht aber auch, weil man einen anderen Ansatz verfolge. Vormals sei es allein darum gegangen, dass ein Kunde eine Arbeit aufnimmt – „egal welche“, sagte Wilhelm. Das sorgte oft dafür, dass er kurze Zeit später wieder beim Jobcenter landete. „Drehtüreffekt“, nennt Wilhelm das. Nun investiere man viel mehr in die Qualifizierung der Leistungsbezieher, um sie fit für die passende Stelle zu machen. Das sorge für deutlich weniger Rückkehrer ins Jobcenter.

Das Jobcenter gibt es seit 20 Jahren

Seit 20 Jahren gibt es die Jobcenter heuer. Arbeitsprozesse wandeln sich, werden digitaler. Seit Januar gibt es beispielsweise die neue App, „die sehr kundenfreundlich gestaltet ist“, sagte Wilhelm. Statt jedes Mal auf die Flinthöhe kommen zu müssen, kann nun vieles über die App erledigt werden. Das geht bis zum Hochladen von Mietverträgen und Veränderungsmeldungen. „Man kann aber auch persönlich kommen?“, fragte Lorenz vorsichtig nach. „Ja, klar“, sagte Wilhelm. Aber in einem großen Flächenlandkreis sei es eben nicht für jeden einfach, nach Tölz zu kommen. „Für Beratungen sind wir für unsere Kundinnen und Kunden aber immer persönlich da. Für alles andere haben wir modernere Alternativen.“ Weiteres Ziel ist es unter anderem, die Videoberatung noch weiter auszubauen. (va)

Auch interessant

Kommentare