Action 24 Stunden lang: Ein Tag in der Notaufnahme
Die Notaufnahme der Wolfratshauser Kreisklinik kämpft nicht nur mit medizinischen Notfällen. Sprachbarrieren und Aggressionen sind zusätzliche Herausforderungen.
Zwischen 8 und 20 Uhr gibt es in der Notaufnahme der Wolfratshauser Kreisklinik kaum eine ruhige Minute. Und auch außerhalb der Stoßzeiten muss das Team auf alles vorbereitet sein. Denn die Ärzte und Krankenpfleger wissen: Bei jedem Patienten kann es ums Überleben gehen – ob er nun per Rettungswagen kommt oder noch selbst den Weg vor ihre Türen findet. Unsere Zeitung durfte den Lebensrettern einen Vormittag lang über die Schulter schauen.
9.15 Uhr
Ein Bub auf Krücken, begleitet von seiner Mutter, betritt als einer der ersten Patienten während der Frühschicht die Notaufnahme. Beide kennen den Weg. Durch den Haupteingang, scharf links am Empfang vorbei und geradeaus bis zur Glastür. Ihr letzter Besuch liegt laut Pflegedienstleiterin Anita Sienerth nicht lange zurück. „Erst gestern waren sie da, heute nur zur Nachsorge.“ Der Grund des Besuchs lag auf einem Eurasburger Sportplatz, eine zerbrochene Glasflasche. In die ist der siebenjährige Lorenz hineingestiegen und hat seitdem eine Schnittwunde am Fuß. Heute soll Sergej Wilms, Facharzt für Allgemeinchirurgie, allerdings nur den Verband wechseln. Die Stimmung ist entspannt.
9.18 Uhr
Ein Alarm geht los, dauert aber nicht lange. Vier durchdringende Pieptöne bereiten die Ärzte der Notaufnahme auf einen Rettungswagen (RTW) mit Patient vor. Männlich, 89 Jahre, steht auf dem Display mit den Vorabinformationen des Rettungsdienstes. „Der Hausarzt hat ihn zu uns geschickt“, erklärt Stefan Reuter, Assistenzarzt der Inneren Medizin. Unter anderem sei der Senior hingefallen. Als Internist teilt sich Reuter mit Kollegen Wilms die Patienten auf. Wilms sei als Facharzt für Chirurgie „für all das zuständig, was blutet“. Reuter für den Rest.
9.24 Uhr
Durch den Hinter- und Nachteingang der Notaufnahme rollen zwei Rettungssanitäter eine Trage. Der angekündigte Neuankömmling hat zwar eine Wunde am Kopf, doch das Problem liegt woanders. „Wegen einer Herzschwäche hat er Medikamente bekommen, die seinem Körper Wasser entziehen. Das hat funktioniert – allerdings zu gut. Er hat zu wenig Wasser im Körper, einen Mangel an Elektrolyten und eine akute Nierenschwäche“, erklärt Reuter. Man nenne das Exsikkose, also Austrocknung.
Den Mann bringt der Rettungsdienst in Behandlungsraum 3 und hebt ihn auf die dortige Liege. Dank der Vorabinformation konnten Greta (17) und Anna (20) alles für das Elektrokardiogramm (EKG) und eine Ultraschalluntersuchung vorbereiten. Greta macht seit elf Monaten einen Bundesfreiwilligendienst in der Kreisklinik. „Ich überbrücke die Zeit bis zu meiner Ausbildung zur Pflegefachkraft. Dafür muss man volljährig sein.“ Anna sammelt praktische Erfahrung als auszubildende Notfallsanitäterin. Beide wollen ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen.
10.05 Uhr
Der nächste Fall für Triage-Schwester und Stationsleitung Andrea Lossack. Sie sitzt hinter dem Empfang der Notaufnahme und entscheidet per Farbcode über Dringlichkeiten (siehe Kasten). Zwei Brüder stehen vor ihr am Tresen der Notaufnahme. Deutsch können sie kaum, Englisch gar nicht. Nur Ukrainisch sprechen sie flüssig. Mit Händen, Füßen und 25 Jahren Erfahrung in der Notaufnahme findet Lossack heraus, dass einer der beiden seit Tagen weder schlafen, noch aufs Klo gehen kann. Sie bekommen grün. Eine Urinprobe vor Ort klappt nicht, ein klarer Fall für Internisten Reuter.
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Der Patient wird in Richtung der Behandlungszimmer geleitet. Neben mehreren großen Räumen wie dem Schockraum gibt es drei kleinere Räume, die eher dem Zimmer eines Hausarztes ähneln. Sein Bruder will ihm folgen, ihn schickt Lossack aber ins Wartezimmer. „Angehörige im Behandlungstrakt, das ist ein Thema für sich“, sagt Sienerth, die die Szene beobachtet. Nicht selten behindern sie die Arbeit der Krankenpfleger und Ärzte, manchmal komme es deswegen zu Konflikten. Aus diesem und anderen Gründen – Alkohol, Drogen, Sprachbarrieren – begegnet das Personal der Notaufnahme immer häufiger aggressiven Besuchern, Patienten, Angehörigen. „Jeder von uns“, sagt Sienerth und blickt zu ihren Kollegen, „hat ein Deeskalations- und Selbstverteidigungstraining gemacht. Für den Fall der Fälle können wir unseren Pausenraum verbarrikadieren und über das Fenster und eine Leiter flüchten.“
12.04 Uhr
Ehefrau und Sohn des 89-Jährigen mit Nierenversagen, der um 9.24 Uhr eingeliefert wurde, werden vorstellig und wollen ihn besuchen. Der Mann wurde kurz zuvor aber auf die Intensivstation verlegt und sei dort zu finden, erklärt Lossack den Besuchern. Dann wieder ein Alarm. Weiblich, 95 Jahre alt, Flüssigkeit im Bauchraum. Sechs Minuten bis zum Eintreffen, vermeldet das Display mit direktem Draht zum Rettungswagen. Ein Hausarzt hat wegen des Verdachts auf Magenblutung den RTW gerufen und bereits mit dem Dienstarzt der Notaufnahme telefoniert. Raum 6 ist frei, routiniert bereiten Greta und Anna das EKG, Blutdruckmessgerät und den Ultraschall vor. Die betagte Dame kommt vier Minuten später auf der Trage hereingerollt. Schnell wird klar: Sie hat auch Erkältungssymptome, Husten und Auswurf. Ohne Hektik, aber trotzdem schnell eilen Ärzte wie Pflegekräfte zum Schrank mit den FFP2-Schutzmasken.
12.20 Uhr
Den nächsten Patienten hört man schon kommen. Nicht mit wegen einer Sirene, sondern lauten Schluchzern. Ein vierjähriger Bub wird von seiner Großmutter zur Notaufnahme getragen. Verstehen kann ihn Stationsleitung Lossack aber nicht, ebenso die Mutter und Oma. Doch Chirurg Wilms ist zufällig vor Ort. Er spricht Russisch sowie Ukrainisch und findet heraus, dass der Bub aus Osteuropa zwar keinen Kinderarzt hat, aber einen entzündeten Mückenstich am Hinterkopf und Fieber. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen und immer eine große Herausforderung in der Notaufnahme“, betont Sienerth. „Eine erste Versorgung können wir immer gewährleisten. Aber für tiefere Behandlungen ist der Kinderarzt oder eben die Starnberger Kinderklinik die Anlaufstelle.“
Das Triage-System
Mit Farbcodes ordnet Stationsleitung Andrea Lossack nach dem Manchester-Triage-System neue Patienten ein, wie lange bis zum ersten Arztkontakt vergehen darf. Beim Transport im RTW trifft die Entscheidung die Mannschaft des Fahrzeugs.
Rot: Sofort/akute Lebensgefahr
Orange: Sehr dringend/zehn Minuten/Lebensgefahr droht
Gelb: Dringend/30 Minuten/schwer erkrankt oder verletzt
Grün: Normal/90 Minuten/Erkrankung oder Verletzung mit geringer Beeinträchtigung
Blau: Nicht dringend/120 Minuten/nicht akut
12.33 Uhr
Mit Spielzeug, Lutscher und Pflaster am Hinterkopf verlässt der Bub in den Armen der Mama die Notaufnahme. Chirurg Willms schaut seinem Patienten hinterher. „Das Ekzem habe ich aufgeschnitten, den Eiter ausgespült und desinfiziert. Das war nicht wild.“ Die anfängliche Verständigung über eine Sprachbarriere hinweg schon eher. Immer häufiger ist das ein Problem. „Und besonders in der Ferienzeit mit den Urlaubern“, erklärt Sienerth. Inzwischen gebe es Bücher, in denen verschiedene Krankheiten, Körperteile und Fragen auf Arabisch aufgeführt sind. „Für viele Sprachen haben wir hier in der Klinik Dolmetscher“, sagt sie und blickt zu Wilms. „Aber eben nicht für alle.“

12.49 Uhr
Durch die Notaufnahme zieht ein Geruch: frischer Kuchen. Im Café Ratscherl wird gebacken. Gerade ist Zeit zum Durchatmen für die Besetzung und das Schichtende rückt näher. „Heute ist es recht ruhig“, sagt Lossack und klopft dreimal auf Holz. „Damit das auch so bleibt“, merkt sie an.
12.51 Uhr
Lossack begrüßt zwei weitere Patienten am Empfang. Einer hat einen Portkatheter, einen temporären Venenzugang, und Fieber. „Ein Port findet bei Chemotherapie-Patienten häufig Anwendung“, weiß Sienerth. Chirurg Wilms vermutet eine Entzündung des Zugangs. Doch Fehlanzeige, der Katheter sieht gut aus. „Also kriegst du den Zuschlag“, sagt die Krankenpflegerin Lossack zu Dienstarzt Reuter. Als Internist ist Fieber sein Fachgebiet.
Der andere Gast will sich ein Zweitgutachten wegen seiner Lunge einholen. Er leide unter COPD, der Chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, erklärt der Senior und zeigt seinen Arztbrief vor. Sienerth atmet hörbar tief durch. „Dafür in die Notaufnahme zu kommen – klar kann man das machen. Ob es ein Notfall ist, ist eine andere Frage.“ Der Patient habe vor drei Monaten das Rauchen aufgehört, berichtet dieser mit einer tiefen, stolzen Bass-Stimme der Stationsleitung Lossack. „Das ist doch schonmal was“, antwortet sie mit einem Lächeln.
Übel nehmen kann Sienerth dem Patienten seinen Besuch trotz fehlendem Notfalls nicht. „Bis ein Facharzt mal Zeit für eine Zweitmeinung hat, dauert es Monate. Nur genau genommen werden wir für so etwas nicht finanziert“, gibt sie zu bedenken. Den Mangel an Fachärzten fange die Notaufnahme auf. „Die Klinik vor der Klinik“, nennt Sienert den Arbeitsplatz deshalb.
13.01 Uhr
Jeder Patient in der Notaufnahme kostet die Klinik Geld. Zwischen 120 und 130 Euro, um genau zu sein. Das ist eins der Fachgebiete vom diensthabenden Internisten Dr. Christoph Preuss. Zum Schichtwechsel der Krankenpfleger wirft der leitende Notarzt und Oberarzt der Abteilung Innere Medizin einen kurzen Blick in den Empfang. Er leitet außerdem das Medizincontrolling, behält also den Überblick über das Soll und Haben der Klinik. „Von dem Geld bekommen wir 30 Euro von der Krankenkasse zurück.“ Den Rest zahle die Klinik. Doch das ist nur die halbe Rechnung. Am Beispiel des 89-jährigen Patienten mit Nierenversagen, der nun auf der Intensivstation liegt, sieht man: „Wir vermitteln natürlich in die stationäre Behandlung. Dort zählen die höheren Fallpauschalen. Die Notaufnahme wird also quersubventioniert.“
13.14 Uhr
Feierabend und Arbeitsbeginn gleichzeitig: Der Schichtwechsel ist vollzogen, das neue Personal hat sich mit den drei aktuellen Patienten in der ambulanten Notfallversorgung vertraut gemacht.