Jobcenter-Chef packt aus: 10.400 Empfänger, 0 Strafen für Totalverweigerer
Erinnern Sie sich an die Schlagzeilen?
- „Ampelkoalition einigt sich auf Sanktionen für ‚Totalverweigerer‘ beim Bürgergeld“ (Der Spiegel)
- „Arbeitsminister Heil zeigt Härte gegen ‚Totalverweigerer‘“ (Handelsblatt).
- „Bürgergeld-Hammer: Wer sich so verhält, kriegt ab 2024 keinen Cent mehr“ (Der Westen)
Viele Medien überschlugen sich förmlich, als die Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP um den Jahreswechsel 2023/2024 schärfere Maßnahmen beim Bürgergeld auf den Weg brachte. Von einer „neuen Strenge“ (Die Welt) war die Rede, von einer bis dato nicht gekannten „Bürgergeld-Härte“ (Münchner Merkur).
Sanktionen beim Bürgergeld: Ampelregierung schürte Erwartungen
Futter für solche Einschätzungen lieferte in erste Linie der damalige Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). „Wer nicht mitzieht und sich allen Angeboten verweigert, muss mit härteren Konsequenzen rechnen“, tönte er in der „Bild“-Zeitung. Damit erweckte Heil den Eindruck, hartnäckigen Arbeitsverweigerern gehe es nun – endlich – an den Kragen.
Doch schon wenige Monate später zeichnete sich ab, dass die vollmundig angekündigte „Knallhart-Maßnahme“ ein klassischer Rohrkrepierer ist. Denn zum einen erwies sich die gesetzlich festgezurrte Möglichkeit, Jobverweigerern für die Dauer von bis zu zwei Monaten das komplett Bürgergeld zu streichen, als wachsweich und leicht zu umgehen.
So steht es sinngemäß in der – bis heute gültigen – Bürgergeld-Passage des Sozialgesetzbuchs: Besetzt ein Arbeitgeber eine Stelle, die der Bürgergeld-Empfänger zuvor abgelehnt hat, mit einer anderen Person, so muss das Jobcenter die gestrichene Stütze nachträglich wieder auszahlen. Im Klartext: Dem Betroffenen drohen kaum oder gar keine Einbußen.
Doch es gibt ein noch viel größeres Problem, wie der Chef des Jobcenters Gera (Thüringen) jetzt offenlegte. Im Interview mit FOCUS online erklärte Enrico Vogel: „In der Praxis ist die Totalsanktionierung schlichtweg nicht umsetzbar, da es viel zu viele Einschränkungen gibt.“
Jobcenter-Chef zieht bittere Bilanz: Keine einzige Totalsanktion
In seiner Behörde, die sich aktuell um 10.400 Bürgergeldempfänger kümmert – sei eine solche Maßnahme noch nie ergriffen worden – und er kenne auch kein anderes Jobcenter, das je eine komplette Streichung durchgesetzt hätte.
Der Grund liegt nach Einschätzung von Enrico Vogel in den komplizierten Regelungen mit hohen Hürden und etlichen Ausnahmebeständen. Schon bei den „normalen“ Sanktionen von 10, 20 oder 30 Prozent seien die Voraussetzungen enorm hoch, sagt er. Kein Wunder, dass 2024 in Gera lediglich gegen 84 Bürgergeld-Empfänger Sanktionen verhängt wurden.

Am diffizilsten sind laut Jobcenter-Chef Vogel die Bestimmungen zum vollständigen „Entzug des Regelbedarfs bei Arbeitsverweigerung“, wie es im offiziellen Sprachjargon der Bundesagentur für Arbeit (BA) heißt. Vogel verweist auf ein 24-seitiges Schreiben, in dem die BA den Jobcentern „fachliche Hinweise“ zum Umgang mit Sanktionierungsfällen gibt.
Allein die Erläuterungen zur Totalstreichung umfasst fünf Seiten. Natürlich sind die Passagen inklusive Musterbeispiel-Fällen in sperrigstem Bürokratendeutsch verfasst. Ein Beispiel:
„Die Regelung zur Zählwirkung in § 31a Absatz 7 Satz 1 beim Entzug des Regelbedarfes weicht von der Regelung in § 31a Absatz 1 Satz 5 bei wiederholten und weiteren Pflichtverletzungen ab (vgl. Rz. 31.30).“
Vollständige Streichung des Bürgergelds meistens nicht erlaubt
In dem Papier wird den Jobcenter-Mitarbeitern genauestens erklärt, in welchen Fällen sie eine komplette Streichung NICHT vornehmen dürfen. Einige Beispiele:
- Ein Bürgergeld-Empfänger weigert sich am 4. März, eine zumutbare Arbeit fortzuführen. Als Reaktion spricht das Jobcenter eine Leistungsminderung in Höhe von 10 Prozent aus, gültig für einen Monat. Am 3. Juni des Folgejahres weigert sich derselbe Bürgergeld-Empfänger erneut, einen Job anzunehmen. Eine komplette Streichung der Stütze ist nicht möglich, „da die Jahresfrist am 31. Mai des Folgejahres bereits abgelaufen ist“, so die BA.
- Ein Bürgergeld-Empfänger reagiert nicht auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch. Obwohl er damit – wahrscheinlich bewusst – die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme verstreichen lässt, rechtfertigt dies „keinen Entzug des Regelbedarfs“, so die BA. Die leistungsberechtigte Person müsse schon die Unterschrift unter einen Arbeitsvertrag verweigern „oder nach bereits unterschriebenem Vertrag“ nicht zur Arbeit kommen.
- Die Bundesagentur weist darauf hin, dass sich der Bürgergeld-Empfänger „willentlich“ weigern muss, einen Job anzunehmen. „Das bedeutet, dass aus dem Verhalten der Person eine direkte Absicht abzuleiten ist, die Hilfebedürftigkeit nicht zu verringern bzw. zu beenden.“ Dem Betroffenen müsse „zweifelsfrei bewusst sein“, was er da tut. Ansonsten sei eine Komplettstreichung der Leistung durch das Jobcenter nicht erlaubt.
- Unter Bezug auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 fordert die BA von den Jobcentern, bei einer Komplettstreichung auf die „Verhältnismäßigkeit“ zu achten. Man müsse dem Jobverweigerer die Chance „der nachträglichen Mitwirkung“ geben (indem er die Arbeit doch noch annimmt) und eine „Härtefallprüfung“ vornehmen. Man sollte dem Betroffenen eine „persönliche Anhörung“ ermöglichen und prüfen, ob der Jobverweigerer nicht doch „einen wichtigen Grund“ für seine Ablehnung habe.
- Ein Bürgergeld-Empfänger nimmt einen Job willentlich nicht an. Er erhält deshalb ab 1. Februar nur noch Geld für Unterkunft und Heizung. Vier Tage später, am 5. Februar, vergibt das Unternehmen die Stelle anderweitig. Ab diesem Tag ist die Streichung des „aufzuheben“, so die BA. Dem Betroffenen entsteht also so gut wie kein Schaden.
- Außerdem darf der Regelbedarf dem Jobverweigerer allerhöchstens zwei Monate entzogen werden. „Für einen erneuten Entzug bedarf es neben dem Vorliegen einer relevanten Vor-Pflichtverletzung innerhalb des letzten Jahres eines neuen konkreten und individuellen Arbeitsangebotes.“
- Zudem wird klargestellt, dass sich der Wegfall der Leistungen ausschließlich auf den Regelbedarf bezieht, der aktuell bei 563 Euro netto im Monat für Alleinstehende liegt. Ein Entzug der Mehrbedarfe (etwa für Schwangere, bei Behinderung oder bestimmten Krankheiten) „ist ebenso ausgeschlossen wie ein Entzug der Bedarfe für Unterkunft und Heizung“, so die BA.
Die Vielzahl an Bestimmungen, Ausnahmen und komplizierten Fallkonstellationen macht es den Jobcenter-Mitarbeitern nahezu unmöglich, das von der Ampelregierung beschlossene Schwert der „Totalsanktionen“ vernünftig einzusetzen. Kein Wunder, dass Geras Jobcenter-Chef Enrico Vogel im Interview mit FOCUS online forderte:
„Wir brauchen endlich ein Instrument, das uns rechtssicher in die Lage versetzt, bestimmte Sanktionen verhängen zu können. Also eine klare Regelung, die besagt: Wenn ein Bürgergeld-Empfänger das und das anstellt, dann hat das für ihn die und die Konsequenzen.“
Kritik der Union: „Hürden für Feststellung sind einfach zu hoch“
Genau das hat sich die unionsgeführte Bundesregierung zum Ziel gesetzt. Bereits zu Oppositionszeiten übte die Union scharfe Kritik am zu laschen Bürgergeld-Kurs der Ampel. Fraktionsvize Mathias Middelberg (CDU) wetterte damals: „Viele Sanktionen beim Bürgergeld laufen leer, weil die Hürden für deren Feststellung einfach zu hoch sind.“
Erst vor kurzem machte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann deutlich, dass die Zeiten des Lavierens und der allzu starken Rücksichtnahme vorbei sind: „Wenn jemand nachweislich wiederholt einen zumutbaren Job nicht annimmt, obwohl er offenkundig arbeiten kann, dann bekommt er auch kein Bürgergeld mehr.“
Und im Koalitionsvertrag von CDU und SPD steht: „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“ Wie viele Jobverweigerer von der Streichung betroffen wären, ist unklar. Offizielle Fallzahlen gibt es nicht. Allerdings dürfte es sich um einen sehr kleinen Teil der rund 4 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeld-Bezieher handeln.
Jobcenter-Chef: „Wir brauchen keine politischen Sonntagsreden“
Welche Verschärfungen die Bundesregierung genau umsetzen will, ist bislang unklar. Im Prinzip müsste das geltende Recht grundlegend geändert werden, kosmetische Korrekturen reichen wohl kaum aus. Zumindest in einem Punkt scheint es Gewissheit zu geben: An der Übernahme der Wohn- und Heizkosten durch die Jobcenter wird nicht gerüttelt.
Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) sagte der „WAZ“ Mitte Mai: „Wer eine komplette Streichung auch der Wohnkosten fordert, verkennt die Lage. Das Existenzminimum muss gesichert werden – das sagen die Gerichte.“ Laut Bas könne es nur darum gehen, „dass Sanktionen schneller greifen und deutlicher sind“.
Man darf gespannt sein, worauf sich die beiden Regierungsparteien am Ende einigen werden.
Was die Praktiker an der Basis auf keinen Fall wollen, hat Geras Jobcenter-Chef Vogel ziemlich gut auf den Punkt gebracht: „Wir brauchen keine politischen Sonntagsreden, keine Absichtserklärungen, die in der Bevölkerung hohe Erwartungen schüren und am Ende nur zu Frustrationen führen.“