Nächste Bodenoffensive im Ukraine-Krieg? Russland errichtet wohl eine „Todeszone“ am Dnipro

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Retter in der Not: In den vergangenen Tagen hat die Stadt Dnipro erneut unter heftigen russischen Drohnen-Angriffen gelitten und die Stadt schwer beschädigt sowie Zivilisten getötet. Während Helfer die Schäden einzudämmen versuchen, wird mit einer erneuten russischen Bodenoffensive gerechnet. © Handout / STATE EMERGENCY SERVICE OF UKRAINE / AFP

Am Dnipro werden die Kämpfe intensiver werden – vermuten Medien. Die ersten Leidtragenden sind wieder Zivilisten. Und die Armeen reiben sich auf.

Cherson – „Der Dnipro ist nicht nur eine natürliche Barriere, die das Land in zwei Teile teilt. Er ist auch eine lebenswichtige Verkehrsader und liefert mit seinen Staudämmen Energie. Russland ist sich dessen bewusst und betrachtet den Fluss als einen der ,Gravitationspunkte‘ der Ukraine“, schreibt Veronika Poniscjakova. Die Autorin des Magazins The Conversation hat im März darüber berichtet, dass Wladimir Putins Armee wohl erneut Lunte gerochen hatte, als Donald Trump signalisierte, er würde die USA aus dem Ukraine-Krieg zurückziehen. Wie mehrere Medien melden, hätten die Streitkräfte Russlands jetzt ihre Bombardierungen entlang des Flusses intensiviert.

Das Magazin Defense Express spricht davon, die russischen Streitkräfte errichteten eine „Todeszone“ am rechten Ufer des Dnipro, was deren Autorin zu der Vermutung bringt, dass Putin dort demnächst eine Offensive starten wolle. Defense Express meldet, dass täglich mehr als 200 Kamikaze-Drohnen sowie gelenkte Bomben auf die Region niederprasselten. Allerdings ist der Kampf um den drittlängsten Fluss in Europa schon so alt wie der Ukraine-Krieg selbst. Russland hat sich dort immer wieder die Zähne ausgebissen.

Ukraine-Krieg am Dnipro: „Zermürbender Katz-und-Maus-Kampf“

Dass das Ringen dort ein „zermürbender Katz-und-Maus-Kampf“ sei und zu eskalieren drohe, hatte der britische Guardian bereits vor zwei Jahren geschrieben. Bis heute sind weder Raumgewinne Russlands noch Verluste an Boden für die Ukraine entscheidend. Wie Markus Reisner immer wieder erklärt, gehört das zu den Charakteristika eines Abnutzungskrieges – der lasse sich eben nicht danach beurteilen, wie viel oder wenig Boden die eine Seite gewonnen oder die andere Seite verloren habe, wie der Oberst des Österreichischen Bundesheeres in verschiedenen Medien beschreibt.

„Die Bedingungen seien so schwierig, sagten ein halbes Dutzend an den Kämpfen beteiligter Männer in Interviews, dass es an den meisten Stellen keine Möglichkeit gebe, sich einzugraben. Die ersten Zugänge seien meist sumpfige, von Bächen durchzogene Inseln oder Wiesen, die sich in einen Morast aus Schlamm und wassergefüllten Bombenkratern verwandelt hätten.“

„Man sollte bedenken, dass Flussüberquerungen nur dann vorgenommen werden, wenn es unbedingt nötig ist. Die dafür benötigten Ressourcen – Ingenieure, Brücken, Artillerie – sind umfangreich. Solche Operationen finden normalerweise nur auf einer militärischen Vorstoßachse statt, die eine Hauptanstrengung darstellt (oder kurz davor steht, die Hauptanstrengung zu werden)“, schrieb beispielsweise Mick Ryan für den australischen Sender ABC am Ende des vergangenen Jahres.

„Der Verlust von Cherson wird alle Südträume des Kremls zunichtemachen“, sagte Oleh Zhdanov Ende 2022 gegenüber der US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP). „Cherson ist ein Schlüssel zur gesamten Südregion, von wo aus die Ukraine wichtige Versorgungsrouten für die russischen Streitkräfte ins Visier nehmen könnte. Die Russen werden mit allen Mitteln versuchen, die Kontrolle darüber zu behalten“, äußerte der ukrainische Militäranalyst. Demzufolge würde die Rückeroberung der Stadt durch Russland das Tor weit aufstoßen zu einer ungebremsten Offensive Richtung Westen bis nach Mykolajiw und Odessa, wie AP darlegt.

Offensive möglich: Boden gutmachen, bevor ein etwaiger Waffenstillstand den Status Quo fixiert

Ähnlich äußerte sich Paul Josephson gegenüber dem indischen Umweltschutz-Magazin Down to Earth: Ihm zufolge habe der Fluss mit der politischen sowie geografischen Veränderung des Sowjetreiches Schritt halten müssen: vom Dnipro, „der relativ friedlich von seinen Quellen in Weißrussland bis zu seinem Delta geflossen war, von einem Fluss des 19. Jahrhunderts in einen Motor wirtschaftlichen Wachstums des 20. Jahrhunderts“, wie der Historiker und Experte für Umweltschutz und Sowjetunion sagt. Offenbar wollen die russischen Streitkräfte aktuell aber kein primär militärisch bedeutsames Ziel in der Region rund um den Fluss Dnipro treffen, wie AP nahe legt.

Der Angriff am späten Mittwoch sei der jüngste gewesen von etlichen russischen Angriffen mit vorrangig zivilen Opfern. AP berichtet auch, dass sich die Angriffe in den vergangenen Wochen verschärft hätten, während die USA mit den verfeindeten Parteien um einen Waffenstillstand ringen. Das Magazin The War Zone (TWZ) hat spekuliert, dass die Kämpfe insofern zunähmen, als dass beide Seiten wohl noch schnell Boden gutmachen wollten, bevor ein etwaiger Waffenstillstand den Status Quo fixiere. Allerdings hatten die Kämpfe um ein paar zusätzliche Meter zuletzt eher 700 Kilometer weiter nordöstlich von Cherson getobt: in Sumy. Laut einer Quelle im ukrainischen Generalstab berichtete TWZ, dass die ukrainischen Streitkräfte davon ausgingen, Russland wolle durch eine „Einkreisung oder Halbeinkreisung von Sumy“ eine „Pufferzone“ in dieser Region schaffen.

Wie TWZ Generalleutnant Kyrylo Budanow zitiert, fehlten den Russen allerdings die notwendigen Kräfte, um strategische Erfolge zu erringen, ihnen seien lediglich taktische Bewegungen möglich, das heißt, die Kämpfe wogen in einigen Dörfern hin und her – laut Budanow versuchten die Russen, ukrainische Truppen in Grenznähe zurückzudrängen. Auch ist an verschiedenen Fronten zu beobachten, dass die Intensität russischer Drohnenangriffe insgesamt zugenommen haben, teilweise hätte sich die Zahl der anfliegenden Drohnen verdoppelt. 

Putin unerbittlich: Von der Kinburn-Nehrung aus führen russische Streitkräfte täglich fünf bis sieben Angriffe

Die von Defense Express-Autorin Sofiia Syngaivska aufgestellte These einer bevorstehenden größeren Offensive entlang des Dnipro ist somit so richtig wie sie falsch ist – zumal aktuell noch keine neuen Informationen einer größeren Massierung russischer Truppen bekannt ist. „Allein auf der Kinburn-Nehrung versuchen russische Streitkräfte täglich fünf bis sieben Angriffe, um auf Inseln im Dnipro-Delta Fuß zu fassen“, schreibt Syngaivska. Die Kinburn-Nehrung ist eine Schlüsselstellung zur Kontrolle des Dnipro – Russland besetzt die rund 200 Quadratkilometer große Halbinsel fast seit Anbeginn des Krieges, kommt von dort aber auch nicht wirklich vom Fleck.

Christopher Morris wundert sich über das Patt am Dnipro – für den Autoren des Magazins The Conversation waren die „Schwierigkeiten, die Russland derzeit mit Flussüberquerungen anderswo hat, immer noch ein wenig rätselhaft. Flussüberquerungen waren ein zentraler Bestandteil der sowjetischen Militärtaktik und spielten eine wichtige Rolle in den Plänen der Roten Armee für ihren Vorstoß nach Europa“, wie Morris an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Viele russische Fahrzeuge sind grundsätzlich amphibisch und die Ausrüstung für Flussüberquerungen gilt als vorhanden.

Horrende Verluste: Die Russen können keine „Todeszone“ schaffen, weil die schon längst existiert

„Dafür gibt es die Pioniere. Brückengerät der Pioniertruppe ist immer dann erforderlich, wenn die Operation die Bewegung eigener Kräfte erfordert. Zum Beispiel beim Angriff, bei der Verzögerung oder einfach nur beim Marsch von Kräften von einem Ort zum anderen“, so der Oberstleutnant vom deutsch-britischen Pionierbrückenbataillon 130 im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt. Im Dezember des vergangenen Jahres war berichtet worden, dass Russland rund 300 Boote am Dnipro zusammenziehe. Auch zum Jahreswechsel war mit einem Sturmangriff über den in der umkämpften südlichen Region mehr als 15 Kilometer breiten Fluss gerechnet worden. Angesichts der Breite des Hindernisses ist die Errichtung eines Brückenkopfes als Grundlage von Raumgewinn nach Überqueren des Wassers schwierig zu realisieren. Für beide Seiten.

So mutet die aktuelle Meldung des Defense Express nahezu zynisch an – die Russen können bald keine „Todeszone“ mehr schaffen, weil die schon längst existiere, wie The War Zone bereits Ende 2023 geschrieben hatte: Der Kampf der Ukrainer um die Errichtung einer Stellung jenseits des Dnipro in dem von Russland besetzten Verwaltungsbezirk Cherson sei brutal und vergeblich gewesen, erklärten an dieser Mission beteiligte Soldaten der New York Times (NYT). Flussüberquerungen glichen Himmelfahrtskommandos – die Angriffe seien brutal uns sinnlos, äußerten ukrainische Soldaten – russische hätten mit Sicherheit ähnlich geantwortet, wie die NYT-Autoren Carlotta Gall, Oleksandr Chubko und Olha Konovalova vermuten lassen:

„Die Bedingungen seien so schwierig, sagten ein halbes Dutzend an den Kämpfen beteiligter Männer in Interviews, dass es an den meisten Stellen keine Möglichkeit gebe, sich einzugraben. Die ersten Zugänge seien meist sumpfige, von Bächen durchzogene Inseln oder Wiesen, die sich in einen Morast aus Schlamm und wassergefüllten Bombenkratern verwandelt hätten.“

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