Cherson bedroht: Russland schielt auf Dnipro-Inseln – Verteidiger unter Druck

  1. Startseite
  2. Politik

Kommentare

Patrouille: Ukrainische Soldaten des Freiwilligenverbands Dnipro-1 auf dem Fluss Sewerski Donezk – bei der dortigen Überquerung haben die Russen ein Desaster erlebt. Von der Erfahrung zehren auch die Soldaten, die aktuell ihr Ufer gegen russische Offensiven verteidigen (Archivfoto). © IMAGO / Adrien Vautier / Le Pictorium

An den beiden Ufern des Dnipro krallen sich die Kriegsgegner fest. Offenbar bekommt keine Seite ihre schweren Fahrzeuge hinüber. Und die Nato grübelt.

Cherson – „Die Zukunft der Ukraine wird maßgeblich davon abhängen, wer die Kontrolle über den Dnipro hat“, schreibt Vikram Mittal. Der Autor des Magazin Forbes macht an den Kämpfen um die Inseln im Fluß Dnipro nahe der Stadt Cherson das Schicksal des Ukraine-Krieges fest. Tatsächlich soll Wladimir Putins Invasionsarmee ihre Anstrengungen zum Übersetzen über den Fluss weiter verstärken.

„Die Aktionen des Feindes sind vorhersehbar, und obwohl ihre Neuaufstellung keine unmittelbare Bedrohung für Cherson darstellt, bleiben ihre Terrortaktiken Anlass zur Sorge“, sagt denn auch Serhiy Zgurets. Der Chefredakteur des Magazins Defense Express berichtet aktuell davon, dass sich die Russen auf den Dnipro-Inseln festsetzen wollen, um von dort den Beschuss Chersons zu intensivieren, mit Mörsergranatenfeuer, Mavic- und weiteren Drohnen, wie Zgurets formuliert.

Ukraine-Krieg bei Cherson: Beide Gegner werfen sich weiterhin in ihren Offensiv-Bemühungen zurück

Der Journalist will erfahren haben, dass Russland etwa 4.000 Kräfte aus Marineinfanterie sowie Luftlandeeinheiten in diesem Gebiet zusammengezogen hätte. Der Kommandierende sei demzufolge Generaloberst Michail Teplinski; der Befehlshabers der Luftlandetruppen habe mehr als 120.000 Soldaten unter seinem Kommando sowie 2.000 Sturmtruppen mit 300 einsatzbereiten Schnellbooten. Allerdings haben russische Truppen während des Ukraine-Krieges schlechte Erfahrungen mit Flussüberquerungen gemacht. Drohnen und Artillerie hätten verschiedene Angriffe über ein natürliches Hindernis wie dieses bisher vereitelt. „Russische Soldaten sabotierten oft ihre eigenen Boote, um dem sicheren Tod bei der Überfahrt zu entgehen“, schreibt Swetlana Swetlana Schtscherbak im Defense Express.

Das Ziel der eigenen Streitkräfte bei einer Überquerung besteht im Wesentlichen darin, ihre Kampfkraft schneller zum (entfernten) Ufer eines Flusses oder eines anderen Wasserhindernisses zu bringen, als der Feind seine Kräfte für einen Gegenangriff konzentrieren kann“

Allerdings beschränkten sich ihre Aktionen auf die Sicherung von Inselpositionen und die Durchführung von Angriffen über den Dnipro, beruhigt das Magazin. An dieser Lebensader der Ukraine reiben sich die beiden Gegner offensichtlich auf. Das Hin und Her ist beinahe so alt wie der gesamte inzwischen fast drei-jährige Krieg. „Trotz aller Widrigkeiten errangen die ukrainischen Marineinfanteristen 2023 bei der Überquerung des Flusses Dnipro einen großen Sieg, obwohl die Mission „zum Scheitern verurteilt“ war“, schrieb beispielsweise der britische Soldatensender BFBS – und das war Anfang 2024.

Seitdem werfen sich die beiden Gegner weiterhin gegenseitig in ihren Offensiv-Bemühungen zurück – so wichtig die Region Cherson auch sein mag, scheint keine Seite klein beigeben zu wollen. „Man sollte bedenken, dass Flussüberquerungen nur dann vorgenommen werden, wenn es unbedingt nötig ist. Die dafür benötigten Ressourcen – Ingenieure, Brücken, Artillerie – sind umfangreich. Solche Operationen finden normalerweise nur auf einer militärischen Vorstoßachse statt, die eine Hauptanstrengung darstellt (oder kurz davor steht, die Hauptanstrengung zu werden)“, schrieb beispielsweise Mick Ryan für den australischen Sender ABC am Ende des vergangenen Jahres.

Ukraine: Seit Mitte des Jahres auch am Dnipro zum Rückwärtsgang gezwungen

Allerdings scheint seit Mitte des Jahres die Ukraine auch am Dnipro zum Rückwärtsgang gezwungen – die New York Times (NYT) hatte Meinungen wiedergegeben von Soldaten und Militäranalysten die behaupteten, „eine Operation zur Errichtung eines Stützpunkts am von Russland kontrollierten Ostufer des Flusses sei blutig und schwer zu rechtfertigen“, wie deren Autor Constant Méheut niedergeschrieben hat.

Im Süden der Ukraine sind die beiden Armeen durch den breiten Fluss getrennt. Den Westen beherrscht die Ukraine – sie hatte im Herbst des ersten Kriegsjahres die Russen aus Cherson vertrieben und über den Fluss auf das Ostufer zurückgedrängt. Seitdem wechseln sich Offensiven und Gegenoffensiven ab. Beide Seiten teilen ein starkes Interesse an der Region Cherson.

„Der Verlust von Cherson wird alle Südträume des Kremls zunichte machen“, sagte Oleh Zhdanov Ende 2022 gegenüber der US-amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP). „Cherson ist ein Schlüssel zur gesamten Südregion, von wo aus die Ukraine wichtige Versorgungsrouten für die russischen Streitkräfte ins Visier nehmen könnte. Die Russen werden mit allen Mitteln versuchen, die Kontrolle darüber zu behalten“, äußerte der ukrainische Militäranalyst. Demzufolge würde die Rückeroberung der Stadt durch Russland das Tor weit aufstoßen zu einer ungebremsten Offensive Richtung Westen bis nach Mykolajiw und Odessa, wie AP darlegt.

Putins Plan: Ukrainer vom Zugang zur Krim abscheiden und einen Korridor nach Transnistrien schaffen

Darüberhinaus geht die Agentur davon aus, dass die Russen die Ukrainer vom Zugang zur Krim abscheiden und gleichzeitig einen Korridor bis zu ihren Basen in Transnistrien schaffen könnten – all das würde den Ukrainern wohl vollends den Hals brechen. „Entlang dieser 1.000 Kilometer langen Frontlinie versuchen sie, die Konzentration der russischen Truppen zu verhindern“, sagte Ben Barry im November des vergangenen Jahres gegenüber dem britischen Guardian. „Sie greifen also zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten an.“ Wenn sie Schwächen in der russischen Verteidigung spüren, könnten die ukrainischen Streitkräfte am Ostufer versuchen, weiter vorzustoßen und Gebiete zu erobern“, ergänzte der Ex-Offizier vom britischen Thinktank International Institute for Strategic Studies (IISS).

Während ihrer jüngsten „Wasserstraßen-Konferenz“ hatte der britische Thinktank Royal Services Institute die Herausforderungen und Möglichkeiten des Überwindens von Gewässern als natürliche Hindernisse thematisiert – im Nato-Jargon die „Wet Gaps“; das wird die Nato in den kommenden Monaten beschäftigen, sollten die Spannungen mit Russland zunehmen. „Das Ziel der eigenen Streitkräfte bei einer Überquerung besteht im Wesentlichen darin, ihre Kampfkraft schneller zum (entfernten) Ufer eines Flusses oder eines anderen Wasserhindernisses zu bringen, als der Feind seine Kräfte für einen Gegenangriff konzentrieren kann“, sagte in dem Zusammenhang gegenüber dem Magazin European Security & Defence (ESD) Josh Wiley.

Der Hauptmann der US Army und Mobilitätsoffizier im Büro des stellvertretenden Stabschefs und Ingenieurs der US Army für Europa und Afrika teilte gegenüber dem ESD die Überquerung eines Hindernisses generell in fünf Phasen auf: Vorrücken zum Fluss, Angriff über den Fluss, Betreten des gegnerischen Ufers, Sichern der Brückenkopflinie, Fortsetzen des Angriffs ins Hinterland. Ihm zufolge müssten für eine erfolgreiche Pionier-Operation mehrere Komponenten ineinandergreifen und ordnungsgemäß sowie äußerst zügig ausgeführt werden.

Erfolg am Dnipro: Kühnheit der Ausführung zählt für den Erfolg genauso wie Kühnheit des Plans

Kühnheit der Ausführung zähle für den Erfolg genauso wie Kühnheit des Plans – wie Wiley äußerte, bestünde die planerische Kühnheit darin, am Fluss „dorthin vorzudringen, wo der Feind nicht auf dessen Überquerung vorbereitet wäre“, wie er sagt. Darüberhinaus müsste die Kampfkraft an den Übersetzpunkten konzentriert werden, das bedeutete eine Kombination von einer „robusten Feuerstärke, Luftabwehr, elektronischer Kriegsführung und anderen Fähigkeiten“, die den Feind zumindest abschrecken und im besten Fall schwächen würden.

Der Dnipro bereitet der Infanterie beider Seiten aber enorme Schwierigkeiten, nicht allein wegen seiner Breite, die im Äußersten bis zu 17 Kilometer betragen können und im Stadtgebiet von Cherson immer noch fast drei Kilometer betrage – der britische Guardian zitiert einen westlichen Militäranalytiker zu dem Dilemma: „Das Problem war schon immer: Es ist ein großer Fluss. Man kann Infanterie hinüberbringen, aber man braucht Panzer. Die Ukraine hat keine Lufthoheit. Wenn sie versucht, Panzer hinüberzubringen, wird sie getroffen.“ Laut Guardian-Autor Tom Burgis würde das sumpfige Flussufer schweren Waffen wie Panzern nach dem Übersetzen ohnehin das Anlanden erschweren – wenn sie überhaupt bis dort vorgedrungen wären.

Ein baldiges Ende der Patt-Situation ist also schwerlich vorstellbar. Defense Express-Chefredakteur Serhiy Zgurets äußert aber die leise Hoffnung, das Wladimir Putin letztendlich doch nicht das andere Ufer erreichen will – ihm zufolge habe Russland Einheiten aus Cherson abgezogen und plane wohl eine Finte: „Einige dieser Fallschirmjäger wurden bereits in die Region Kursk verlegt. Wenn der Feind mit diesen Angriffen fortfährt, besteht sein Ziel wahrscheinlich darin, uns zu zwingen, Truppen hier zu belassen und sie von anderen kritischen Fronten abzuziehen.“

Auch interessant

Kommentare