„Irreversible Schäden“: Urlauberansturm bedroht Dörfer in deutschem Nachbarland
Touristen überschwemmen wiederholt malerische kleine Dörfer mit Postkartenansichten. Genau das wird aber vielen Orten zu viel.
Gerberoy – In den malerischen Dörfern Frankreichs wächst ein Problem, das immer schwieriger zu bewältigen wird: der Massentourismus. Was einst als wirtschaftlicher Segen galt, entwickelt sich zunehmend zu einer Belastung für kleine Gemeinden, die mit der Flut an Besuchern überfordert sind. Darüber schreibt unter anderem Vie Publique.
Urlauber-Ansturm auf 130-Einwohner-Ort: Im Kampf gegen Touristenmassen
Gerberoy, ein idyllisches Dorf im Departement Oise, etwa 90 Kilometer nördlich von Paris, steht exemplarisch für dieses Dilemma, wie Le Figaro berichtet. Mit nur 130 Einwohnern, verteilt auf das Zentrum und den Weiler Pommier Malsoin, gehört es zu den „Plus Beaux Villages de France“ (Schönste Dörfer Frankreichs). Seine Fachwerkhäuser mit Lehmgefachen und Ziegelausfachungen ziehen jährlich über 100.000 Besucher an. Von einem ähnlichen Problem berichtete eine Kleinstadt in Großbritannien und Lauterbrunnen in der Schweiz, die sich auch etwas einfallen lassen müssen.
Bürgermeister Pierre Chavonnet beschreibt die Entwicklung mit Sorge: „2014 haben wir ein Tourismusbüro im Zentrum der befestigten Stadt eingerichtet. Damals wollten wir einen Besucherstrom bewältigen, den wir noch verkraften konnten.“ Vor zehn Jahren besuchten etwa 80.000 Menschen jährlich Gerberoy. Diese Zahl stieg 2019 auf 120.000 an, bevor die COVID-Pandemie für einen vorübergehenden Rückgang sorgte.
„2024 haben wir mit 130.000 Personen einen neuen Rekord erreicht“, berichtet Chavonnet. Die Situation wird zunehmend kritisch: „Das wird schwierig in Bezug auf Parkplätze und Sauberkeit, aber mit einem Budget von 150.000 Euro kann ich niemanden einstellen“, erklärt der Bürgermeister. „An den besucherstärksten Wochenenden sind es die gewählten Vertreter, die die Mülleimer im Dorf leeren oder als Strafzettelverteiler fungieren.“
Innovative Lösungsansätze gegen Überlastung durch Urlauber
Um die Besucherströme zu bewältigen, hat Bürgermeister Chavonnet zunächst das Parken im Ortskern verboten und einen Parkplatz am Ortsrand eingerichtet. Nun erwägt er ein Online-Reservierungssystem nach dem Vorbild der Calanques von Sugiton bei Marseille. Dort wurde 2022 ein Reservierungssystem eingeführt, das die tägliche Besucherzahl auf 400 begrenzt, um die empfindliche Umwelt zu schützen. Die Großstadt Marseille kämpft derweil gegen das Wohnungsproblem und die Airbnb-Angebote.

„Aber wie können wir verhindern, dass die Einheimischen diskriminiert werden, für die wir das Ziel ihres Sonntagsausflugs sind? Und wer wird kontrollieren, ob alle Besucher wirklich eine Reservierung haben?“, fragt sich der Bürgermeister.
Kein Einzelfall: Giverny und andere touristische Hotspots
Gerberoy ist bei weitem nicht der einzige Ort, der mit diesem Phänomen zu kämpfen hat. In der Normandie hat Giverny, das Dorf des impressionistischen Malers Claude Monet, mit seinen nur 450 Einwohnern die Millionengrenze bei den Besucherzahlen überschritten.

Claude Landais, Bürgermeister von Giverny, berichtet von ähnlichen Maßnahmen: „Wir mussten den Parkplatz im Zentrum abschaffen, um die Menschen zu zwingen, auf den drei Parkplätzen außerhalb zu parken. Wir haben auch den Kartenverkauf für das Impressionistenmuseum an Feiertagen begrenzt und an Sonntagnachmittagen Busse verboten.“
Ausgeklügeltes Parksystem soll Urlauber und Einheimische retten
Die Situation in Giverny hat sich so zugespitzt, dass die Gemeinde ein ausgeklügeltes Parkleitsystem entwickeln musste. Die Parkplätze „Les Jardins de Claude Monet“, „La maison de Claude Monet“ und „Parking de la Prairie“ führen die Besucher gezielt außerhalb des Dorfkerns. Für Reisebusse gibt es spezielle Parkzonen, die streng überwacht werden, schreibt die Park-Übersichtsseite Parking.best wie auch Giverny27.fr.
Das von Gerberoy in Betracht gezogene Reservierungssystem der Calanques von Sugiton gilt als Pioniermodell im Kampf gegen Übertourismus in Frankreich. Seit 2022 müssen Besucher der beliebten Bucht bei Marseille eine kostenlose Online-Reservierung vornehmen. Die Reservierungen, so schreibt Calanques-parcnational.fr, öffnen drei Tage vor dem gewünschten Besuchstag um 9 Uhr und schließen am Vortag um 18 Uhr. Bekannte Orte müssen immer wieder mit Veränderungen kämpfen, wie auch etwa Biarritz, dort wurde ein Stadtteil nach einem Zoff umbenannt.
Dieses System wurde eingeführt, nachdem die Calanque an Spitzentagen bis zu 2500 Besucher gezählt hatte. Die Folgen waren verheerend: Erosion der Böden, Beeinträchtigung der Vegetation und Gefährdung ausgewachsener Kiefern entlang der Wege, wie bei La Provence zu lesen war. Der Nationalpark warnte vor „irreversiblen Schäden an der Biodiversität und Landschaft“ ohne entsprechende Maßnahmen.
Frankreichs wachsende Herausforderung: Surtourisme – der Übertourismus
Das Phänomen des „Surtourisme“ (Übertourismus) betrifft zunehmend viele Regionen Frankreichs laut CG972.fr. Als weltweit führendes Reiseziel mit fast 100 Millionen Besuchern im Jahr 2023 und Einnahmen von 63,5 Milliarden Euro steht das Land vor der Herausforderung, Tourismus und Lebensqualität in Einklang zu bringen. IPPEN.MEDIA berichtete auch schon über einen neuen Touristen-Trend in Frankreich, der für Empörung sorgte.
Die französische Regierung hat das Problem erkannt und 2023 einen Plan zur Regulierung der Besucherströme vorgestellt. Ein „Observatoire national des sites touristiques majeurs“ (Nationales Observatorium für wichtige touristische Stätten) wurde eingerichtet, um das Phänomen besser zu analysieren. Zudem soll eine Kommunikationskampagne, wie France24.com vermeldet, einen „Vier-Jahreszeiten-Tourismus“ fördern, der besser über alle Regionen verteilt ist.
Für kleine Dörfer wie Gerberoy, berichtet La Demeure du Parc, bleibt die Herausforderung jedoch immens. Die Klassifizierung als „eines der schönsten Dörfer Frankreichs“ hat zwar wirtschaftliche Vorteile gebracht, stellt die Gemeinde aber vor logistische Probleme, die mit den begrenzten Mitteln einer Kleinstkommune kaum zu bewältigen sind. Die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen touristischer Attraktivität und Erhalt der Lebensqualität für die Einwohner wird die Kommunalpolitik in den kommenden Jahren prägen.
Frankreich und der Tourismus
Frankreich bleibt mit 100 Millionen internationalen Touristen im Jahr 2023 das meistbesuchte Land der Welt. Der Tourismussektor generierte Einnahmen von 63,5 Milliarden Euro und trägt etwa 7,5 Prozent zum französischen Bruttoinlandsprodukt bei. Insgesamt sind rund 2 Millionen Menschen direkt oder indirekt in der Tourismusbranche beschäftigt, was die enorme wirtschaftliche Bedeutung dieses Sektors für das Land unterstreicht.
Die Besucher kommen aus verschiedenen Teilen der Welt, wobei europäische Nachbarländer den größten Anteil ausmachen: 14 Prozent der internationalen Touristen stammen aus Großbritannien, gefolgt von Deutschland mit 13 Prozent und Belgien/Luxemburg mit 12. Italien stellt neun Prozent der Besucher, die Schweiz acht. Aus Übersee sind besonders die USA mit sieben Prozent und China mit fünf der Besucher bedeutende Quellmärkte für den französischen Tourismus.
Quellen: Atout France, INSEE, Direction Generale Enterprises, UNWTO
Während die Debatte über Besucherlenkung und Zugangsbeschränkungen weitergeht, steht eines fest: Die idyllischen Dörfer Frankreichs müssen innovative Wege finden, um ihre Authentizität zu bewahren und gleichzeitig den wirtschaftlichen Nutzen des Tourismus zu erhalten. Die Erfahrungen von Orten wie Gerberoy, Giverny und den Calanques von Sugiton könnten dabei wegweisend für andere betroffene Gemeinden sein. (ank)