Schüler aus Kempten und Sopron treffen sich in „Little Berlin“ (Mödlareuth) im 35. Jahr nach dem Mauerfall

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Geschichte an authentischen Orten erleben wollten Schüler des Széchenyi- und des Hildegardis-Gymnasiums und trafen sich im Mödlareuth. Mit dabei Zeitzeugin Sabine Popp (6. v. l.). © Lajos Fischer

Der Fall der Mauer in Deutschland und in Europa, der vor 35 Jahren begann, ist für die Gymnasiasten heute Geschichte, die sie aus Lehrbüchern kennen. Je 14 von ihnen aus dem Széchenyi-István-Gymnasium in Sop­ron und dem Hildegardis-Gymnasium aus Kempten verbrachten drei Tage im Deutsch-Deutschen Museum Mödlareuth, um auf das damals Geschehene gemeinsam einen ganz anderen, persönlichen Blick zu bekommen.

Kempten/Sopron/Mödlareuth – Eingeladen haben dazu der Zweckverband des Museums und das Deutsch-Ungarische Jugendwerk. Die Initiative ergriff die Geschäftsführerin des Jugendwerks, Rita Chiovini, die vom Freundschaftskreis Partnerstädte Kempten unterstützt wurde. Zwischen den beiden Schulen gibt es seit 1989 einen jährlichen Schüleraustausch, die ersten Kontakte reichen auf das Jahr 1988 zurück.

Städtepartnerschaften: Freundschaften gegen Feindbilder

Wer hätte ein Jahr davor, 1987, gedacht, als der damalige Kemptener Oberbürgermeister Dr. Josef Höß seine Unterschrift unter den Partnerschaftsvertrag setzte – die zweite zwischen einer westdeutschen und einer ungarischen Stadt überhaupt –, dass der „erste Stein aus der Mauer“ gerade in dieser westungarischen Stadt geschlagen werde, wie Helmut Kohl formulierte. Ein Zufall?

Die Politik hat es schwer, Feindbilder aufrechtzuerhalten, wenn zwischen den Menschen in beiden Ländern persönliche Freundschaften bestehen. Was damals für die beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ galt, ist heute, wo die Beziehungen zwischen den beiden EU-Ländern äußerst schwierig sind, wieder höchstaktuell. Lernen, Konflikte mit Worten zu lösen, sei in der heutigen Zeit besonders wichtig, betonte Alexander Kätzel, der Bürgermeister von Töpen (Mödlareuth ist ein Teil der Gemeinde) in seinem Grußwort. All das verleiht dieser einmaligen internationalen Jugendbegegnung eine besondere Bedeutung.

Paneuropäisches Picknick bei Sopron

Am 19. August 1989 gelang beim Paneuropäischen Picknick bei Sopron mehr als 600 DDR-Bürgern die Flucht in die Freiheit. Die Fotos von Tamás Lobenwein mit den glücklichen Gesichtern direkt nach dem Durchbruch sind weltweit bekannt. Árpád Bella, der Chef der Grenzsoldaten, der ein Blutvergießen verhinderte und die Organisatoren der Veranstaltung, vor allem Dr. László Magas und László Nagy, erhielten in Deutschland hohe Auszeichnungen und traten in Kempten mehrmals als Zeitzeugen auf.

Heute gilt es als höchstwahrscheinlich, dass dieses Ereignis, weil es weder in Moskau noch in Ost-Berlin zu großen Protesten führte, den letzten gelungenen „Test“ für die endgültige Öffnung der Grenze im September darstellte. „Danach war die Teilung Deutschlands sinnlos“, stellten die Schüler in Mödlareuth fest. Die Gedenkstätte an der Grenze erhielt 2015 von der EU das Europäische Kulturerbe-Siegel, Kanzlerin Angela Merkel war bei zwei Jubiläen vor Ort, für den 35. Jahrestag wurde Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eingeladen.

Film mit einem Zeitzeugen: Schüler setzen KI ein

Museumsleiter Robert Lebegern berichtete, dass die Darstellung des Mauersturzes im neuen Museum in Mödlareuth, das 2025 fertiggestellt werde, mit den Ereignissen in Sopron beginnen und mit den Lobenwein-Fotos illustriert werde. „Die Gedenkstätte konnten wir nicht mitnehmen“, sagten die Soproner Schüler Simon Everding und Dávid Rokob, „deswegen haben wir einen Kurzfilm gedreht und den mitgebracht.“ In diesem erzählen die Soproner Schülerinnen und Schüler vor Ort die wichtigsten Ereignisse und lassen in einem Kurzinterview Dr. Magas zu Wort kommen. Das in Ungarisch geführte Gespräch haben sie nicht mit Untertiteln versehen, sondern mithilfe von KI übersetzt, die auch die unverwechselbare Stimme des Zeitzeugen simuliert.

Film über das Paneuropäische Picknick
Szenen des Paneuropäischen Picknicks mit Originalaufnahmen von Tamás Lobenwein zeigten die Soproner Schüler in einem Film. © Domokos Kovács

Die Kemptener Schülergruppe stellte in mehreren Vorträgen die andere Vorgeschichte des Mauerfalls außerhalb Deutschlands vor: Die Ausreise der Flüchtlinge aus der Prager Botschaft.

Alltagsleben im Grenzgebiet

Mödlareuth ist ein kleines Dorf an der Grenze Bayerns und Thüringens, das als „Little Berlin“ bekannt wurde, weil es entlang des Tannbachs, zunächst durch einen Zaun, ab 1966 durch eine Betonmauer geteilt wurde. „Einer der Erinnerungsorte, wo man authentisch Geschichte erzählen kann“, sagte Dr. Ludwig Unger von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Es seien viel zu viele solche Orte verschwunden.

Das Schwerpunktthema des Seminars war das Alltagsleben der Menschen auf den beiden Seiten der Mauer. „Es war krass zu sehen, wie groß das Grenzgebiet war“, sagt Amelie Fischer aus Kempten. Hier sei ihr bewusst geworden, dass es nicht nur eine Mauer gab, sondern einen fünf Kilometer breiten Schutzstreifen mit Signalzaun, fügte Kemara Handrik dazu. „Alles wurde extrem überwacht, man wusste alles über eine Person. Ich bin froh, nicht in der Zeit gelebt zu haben.“

Bei der Exkursion in das bayerisch-sächsische Grenzgebiet, zum Grenzbahnhof Gutenfürst und zum Grenzturm Heinersgrün bekamen sie eindrucksvoll geschildert, was es für die Leute bedeutete, im Schutzgebiet zu wohnen, erzählt Luis Hörner. Jonathan Zengerle fand es gut, dass der Zeitzeuge Dieter Gäbelein, der über seine gelungene Flucht berichtete, einen Freund mitbrachte, damit sie das Alltagsleben auf beiden Seiten der Grenze kennenlernen können. „Die Mauer war lebensbestimmend“, betont Zengerle. Der Mauerfall sei für die Menschen im Westen ein interessantes Ereignis gewesen, das sie im Fernsehen verfolgten. Ihr Alltag habe sich dadurch kaum verändert. Für die Ostdeutschen, die bis dahin vom Rest der Welt abgeschnitten waren, hatte er eine viel größere Bedeutung: Sie erlangten ihre Freiheit.

Praktische Übung: Quellenanalyse von Stasi-Akten

Besonders spannend fand Simon Everling aus Sopron die Quellenarbeit mit Stasi-Akten. Die ungarischen Schüler, die auch in ihrer Schule wenig Frontalunterricht erleben, fanden die intensive Arbeit mit historischen Quellen in Kleingruppen besonders interessant.

Gruppenarbeit in Mödlareuth
Die Arbeit mit historischen Quellen in Kleingruppen hat den Schülerinnen und Schülern am meisten gefallen. © Domokos Kovács

Zeitzeugin berichtet: Jugend und Gefängnis in der DDR

Zu den Highlights gehörte das Zeitzeugengespräch mit Sabine Popp, die etwa im gleichen Alter war wie die teilnehmenden Jugendlichen, als sie 1979 verhaftet und zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Die ihr vorgeworfene „staatsfeindliche Hetze“ bedeutete, dass sie auf dem Heimweg aus der Disco mit Autoreparaturlack Sprüche wie „Freiheit statt Sozialismus“ oder „Die Mauer muss weg“ auf die Straße sprühte, in der Hoffnung, dass die Leute darüber reden würden.

Ihr Freund, der „Schmiere stand“, bekam fast vier Jahre Gefängnis, ihre kleine Schwester zwei Jahre Erziehungslager, weil sie sie nicht „verpfiffen“ habe. Das übernahm ein Klassenkamerad, dem sie sich eines Tages auf dem Heimweg anvertraute. Die drei jungen Menschen wurden später, vermittelt vom Rechtsanwalt Vogel, freigekauft. Ab 1982 lebten sie im Westen, ohne die Hoffnung, ihre Eltern je wiedersehen zu können.

Neue Freundschaften entstehen

„Es war schön zu sehen, dass sich zwischen den Jugendlichen in den drei Tagen freundschaftliche Beziehungen entwickelten“, sagt Domokos Kovács, der das Seminar von der Seite des Jugendwerks betreute. „Wir haben viele gemeinsame Gespräche geführt und zusammen viel gelacht“, erzählt Bianka Baumbach aus Sopron. „Alle sind auf der gleichen Wellenlänge.“

Die deutschen Schüler loben die guten Sprachkenntnisse der Ungarn. „Wenn es in Deutsch nicht funktionierte, haben wir ins Englische gewechselt“, berichtet Zsófia Czigola. „Ich habe mich wohlgefühlt, coole Typen kennengelernt. Wir haben vieles gemeinsam gemacht“, sagt Dávid Rokob. Über eine gemeinsame Stadttour berichtet Senay Öz aus Kempten. „Ich liebe Ungarn! Sie sind sehr offen und sympathisch“, fügt sie hinzu. Die Schüler zeigen die vielen Instagram-Fotos, sie bleiben dort weiterhin in Kontakt.

Auch die begleitenden Lehrkräfte, Emöke Kaszás und Réka Szántó-Mikó aus Sopron sowie Jana Pittel und Benjamin Adam aus Kempten sind sehr zufrieden: Ihre Schüler zeigten großes Interesse für das Thema des Seminars, aber auch für die Kultur der beiden Länder. Viel Anerkennung bekamen die ungarischen Jugendlichen dafür, dass sie das gesamte Fachprogramm in einer Fremdsprache absolvierten.

Soproner Schüler in Passau
Beim Grabdenkmal der ersten ungarischen Königin, Gisela von Bayern, in Passau. © Domokos Kovács

Um ihr Wissen über Bayern vertiefen zu können, durften die ungarischen Schüler, die für das Seminar ihre Sommerferien unterbrachen, auf Einladung des Jugendwerks weitere zwei Tage in Bayern verbringen: Sie besuchten das Grab von Gisela, der ersten ungarischen Königin in Passau und das Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg. Eine Drachenbootfahrt stand genauso auf dem Programm, wie auch das Kennenlernen der baye­rischen Biergartenkultur.

Schüler im Biergarten
Die ungarischen Schülerinnen und Schüler lernen die bayerische Biergartenkultur kennen. © Domokos Kovács

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