Auf dem Gymnasium hatte Gourmelon wöchentlich zwei Schulstunden Informatik. Dass sie zehn Jahre später ihre Doktorarbeit in diesem Fach schreiben würde, hätte ihr jüngeres Ich nicht geglaubt. Ein Informatikstudium? Niemals. Was ihr genauso früh klar war: Der Klimawandel bedroht die Erde. Und so setzte sich Gourmelon schon in der Schule das Ziel, einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Geografie oder Geologie, das wollte sie nach dem Abitur machen.
Ihre Pläne änderten sich, als sie einer befreundeten Informatikstudentin von ihren Plänen erzählte, in die Klimaforschung zu gehen. Die Freundin riet ihr zu Informatik – ausgerechnet. Das Argument lautete: Erst die Methodik, dann die Anwendung lernen. Und so begann die gebürtige Erlangerin trotz Muffensausen in der Wissenschaft des Digitalen. Der Anfang war keinesfalls leicht. Im Jahr 2020 brach die Coronapandemie über Deutschland herein, die Universitäten mussten schließen. Doch Gourmelon biss sich durch. Vom Proseminar bis zur Doktorarbeit.
Vom Klassenzimmer in die Forschung
Für die fasst sie jetzt unter anderem den 7000 Kilometer entfernten Columbia Gletscher im US- Bundesstaat Alaska ins Auge. Seine Eismassen ziehen sich von den Gebirgen der Chugach Mountains bis in die Bucht des Prince William Sound. Er hat eine Gesamtfläche von fast 1150 Quadratkilometern und ist damit dreimal so groß wie der Bodensee.
Etwa 200.000 Gletscher gibt es weltweit. Sie sind Süßwasserspeicher, liefern Tieren und Pflanzen wichtige Nährstoffe. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag für das ökologische Gleichgewicht. Doch sie schmelzen. Für Forscher ist ihr Zustand daher ein wichtiger Indikator für die Veränderung des Klimas. Und: Je schneller die Gletscher schmelzen, desto stärker steigt der Meeresspiegel an.
Klimaforscher nutzen Satellitenfotos und Radaraufnahmen, wenn sie Gletscher analysieren. Um zu ermitteln, ob und wie sie schmelzen, betrachten sie vor allem den Übergang zwischen der Eismasse und dem Meerwasser an, die sogenannte Gletscherabbruchkante.
Informatikerin Gourmelon hat sich das Verfahren vorgenommen, das Wissenschaftler bisher nutzen, um die Bilder auszuwerten. Sie machen das nämlich von Hand, Bild für Bild. Das dauert, sagt Gourmelon. Sie hat es selbst ausprobiert: Für 121 Bilder brauchte sie fast zwei volle Tage.
Neue Technologie zeigt, wie schnell Gletscher schmelzen und Meeresspiegel steigen
Gourmelon will den Prozess automatisieren. Ihre Vision ist eine Künstliche Intelligenz, die anhand einer Aufnahme relativ genau die Gletscherabbruchkante berechnet. Dafür verwendet sie verschiedene KI-Modelle und trainiert sie mit Radaraufnahmen verschiedener Gletscher. Die Modelle sind vergleichbar mit den bekannten Modellen wie ChatGPT von OpenAI oder Gemini von Microsoft. Daraus puzzelt sich die Informatikerin eine eigene KI-Anwendung zusammen. Es sei, sagt Gourmelon, so ähnlich wie ein Lego-Set zusammenzusetzen. „Die Steine produziere ich nicht selbst, aber die Burg baue ich selbst zusammen.“
Ihr KI-Trainingscamp läuft wie folgt ab: Das Modell erhält die Radaraufnahme verschiedener Gletscher. Es funktioniert wie der Filter in einem Bildprogramm und zeichnet die entsprechende Gletscherkante ein. Die eingezeichnete Kante vergleicht Gourmelon mit dem händischen ermittelten Wert. Aus der Differenz bildet der Algorithmus einen Fehlergradienten, und Gourmelon weiß, in welche Richtung sie ihr Modell verbessern muss. Und so verbringt die gebürtige Erlangenerin viele ihrer Arbeitstage am Schreibtisch, mit zahlreichen Tests der Software. „In 99 von 100 Fällen scheitern diese ersten Experimente“. Die Trainingsruns sind aufwändig und mühsam, aber nötig.
Auf dem Digitalgipfel 2021 hat Gourmelon der damaligen Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger ihre Forschung vorgestellt. Die deutsche Gesellschaft für Informatik hat sie zur „KI-Newcomerin des Jahres 2023“ gekürt, sie hat ihre Arbeit auf zahlreichen Konferenzen unter anderem in Island und in Wien präsentiert.
Nach vier Forschungsjahren hat die KI bereits einiges dazugelernt. Am Anfang lag die Genauigkeit bei durchschnittlich 220 bis 250 Metern um die Abbruchkante herum. Ihr aktuelles Modell ist schon auf 100 Meter genau – zum Vergleich: menschliche Auswerter schaffen eine Genauigkeit von 30 Metern. Gourmelon ist stolz auf ihren Fortschritt. Sie hat ihn sich hart erkämpft.
Den Rückgang des kanadischen Columbia Gletschers, den Wissenschaftler seit Jahren beobachten, kann auch Gourmelons KI zuverlässig zeigen. Die Software markiert auf dem Bildschirm der Doktorandin neue Abbruchkanten in einem Gewirr verschiedener Grautöne, das eine Expertin wie Gourmelon lesen kann wie ein Buch.
Eine Einschränkung hat ihre KI: Sie funktioniert nur bei Gletschern, die im Meer enden. Den Übergang von Gebirgsgletschern und Gestein kann sie nicht erkennen.
Gletscher im Blick: Forscherin automatisiert die Analyse von Schmelzraten
Mit Gourmelons KI-Modell können Forscher und Forscherinnen mehr Gletscherdaten in kürzerer Zeit auswerten und so berechnen, wie schnell das Eis weltweit schmilzt. Gourmelons arbeitet zum Beispiel mit Dakota Pyles zusammen, einem Geografie-Doktoranden am Lehrstuhl für Fernerkundung an der Alexander-Friedrich-Universität. Er nutzt Gourmelons KI, um die circa 1500 Gletscher der Antarktis zu beobachten. Später sollen die Ergebnisse von Pyles Forschung und der anderer Wissenschaftler in Klimaberichte einfließen, etwa in den IPPC-Report des Weltklimarats. Der jährliche Sachstandsbericht des Weltklimas ist Grundlage für weiterführende klimapolitische Entscheidungen.
Gourmelon nennt ihre Arbeit „grüne KI“, also die Anwendung von KI-Systemen auf klimarelevante Fragen. Es ist ein Forschungsfeld mit Zukunft. „Ich bin mir sicher, dass wir bei den Einsatzmöglichkeiten von grüner KI erst ganz am Anfang stehen“, sagt die Informatikerin. Perspektivisch könnten Wissenschaftler mit KI auch Klimavorhersagen apräzise für einzelne Regionen treffen. Dennoch schlägt Gourmelons Herz eher für den Klimaschutz als für KI-Modelle. Die Informatik ist für sie immer noch nur ein nützliches Tool, um die Klimaforschung zu verbessern.
Noch ist Gourmelons KI Modell in der Entwicklung, doch bereits in wenigen Wochen endet die Testphase. Sobald Sie den Code veröffentlicht hat, werden Wissenschaftler weltweit sie nutzen können. Dann kann sich kein Gletscher mehr heimlich klein machen.