Russland-Experte und Ex-Befehlshaber: „Zwei Kaffee mehr und Putin verliert den Ukraine-Krieg“
Der stellvertretende Vorsitzende des neuen EU-Ausschusses für Verteidigung wirft Putin einen „regellosen Krieg“ in der Ukraine vor.
Straßburg – Die Europäische Union will Europa wehrhafter machen. Ein Anzeichen dafür ist der neue Posten des Verteidigungskommissars – ein anderes der ebenso neue Ausschuss für Sicherheit und Verteidigung im EU-Parlament. Riho Terras ist der stellvertretende Vorsitzende. Von 2011 bis 2018 war er Befehlshaber der Verteidigungsstreitkräfte der Republik Estland. Terras begann seine militärische Laufbahn noch in der sowjetischen Marine. Bereits vor Jahren warnte der 57-Jährige vor einem Einmarsch Russlands in die Ukraine.
Herr Terras, in Europa wächst die Sorge vor einem Krieg mit Russland. Militärexperten und westliche Geheimdienste vermuten, dass das russische Militär in vier bis fünf Jahren in der Lage sein könnte, die Nato zu testen und einen Mitgliedsstaat anzugreifen. Rechnen Sie mit einer Attacke?
Man muss immer damit rechnen. In den vergangenen Jahrhunderten hat Russland uns Esten alle 25 Jahre angegriffen. Für uns ist diese Bedrohung nichts Neues. Aus gutem Grund gab Estland im zurückliegenden Jahr 3,9 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung aus. Zurzeit sind die russischen Streitkräfte nicht in der Lage, Europa und die Nato anzugreifen. Aber: Wenn wir als Union nicht stärker in unsere Abschreckung investieren, dann wächst die Gefahr. Falls Wladimir Putin ein Nato-Land attackiert und die restlichen Partner nicht zur Hilfe eilen, wäre dieses Szenario das Ende des Verteidigungsbündnisses.
Russland-Experte warnt: EU steht vor großen Problemen
Der neue US-Präsident Donald Trump fordert, dass alle Nato-Staaten fünf Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die Sicherheit ausgeben sollen. Während seiner ersten Amtszeit sagte er, dass die USA europäische Nato-Partner nicht verteidigen, wenn sie ihre Rechnung nicht bezahlen. Fürchten Sie eine Schwächung der Nato durch Trump?
Ich fürchte gar nichts. Auch die USA wissen, wie wichtig die Nato ist – auch für die Sicherheitsinteressen unseres transatlantischen Partners. Trump ist nicht der erste US-Präsident, der von den europäischen Ländern höhere Ausgaben fordert. Das tat bereits Barack Obama. Und ich finde diese Forderung absolut richtig. Wir müssen alle mehr ausgeben. Dank der Friedensdividende waren die Ausgaben für Verteidigung in Europa in den letzten 30 Jahr sehr überschaubar. Nun stehen wir vor zahlreichen Problemen: Wir haben viel zu wenige Soldaten und die Munitionslager sind leer. Europa muss den militärisch-industriellen Komplex hochfahren. Wir brauchen höhere Produktionskapazitäten.
Wie lässt sich das einfädeln?
Ein gutes Beispiel ist Finnland: Seit dem Kalten Krieg hatten die Finnen immer Reserven, weil die Regierung mit bestimmten Firmen Verträge abschloss. Das Ziel: Wenn ein Krieg ausbricht, müsst ihr die Produktion schnellstmöglich hochfahren. So konnte die Munitionsherstellung verfünffacht werden – in einem Jahr. Es wäre toll, wenn dazu auch andere Länder in der Lage wären. Idealerweise würden wir das gemeinsam als Union schaffen. Aber davon sind wir weit weg.
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Was kann die EU gegen diese Infrastruktur-Probleme tun?
Ich hoffe, dass unser neuer EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius die europäische Verteidigungspolitik konsolidieren wird. Welche Fähigkeiten brauchen wir? Wo sind unsere größten Lücken in der Verteidigung? Diese Fragen müssen dringend beantwortet werden. Und wir brauchen gemeinsame Antworten. Wenn jedes Land alleine handelt, wären die Kosten viel höher.
Ehemaliger Befehlshaber sieht zahlreiche Schwächen in der europäischen Verteidigungsarchitektur
In welchen Bereichen sehen Sie aktuell den größten Nachholbedarf?
Der Luftraum über Europa ist nicht ausreichend geschützt. Ein weiteres Problem ist die bereits angesprochene Munitionsknappheit. Das Gleiche gilt für Lenkwaffensysteme, von denen wir zu wenige haben – und Drohnen. Wir haben zwar einzelne Unternehmen, die gute Drohnen herstellen. Allerdings fehlt eine systematische Produktion. Vor zwei Jahren durften man das Wort „umbenannte Systeme“ nicht in den Mund nehmen. Zu groß war die Kritik. Nun sehen wir in der Ukraine, wie wichtig diese Systeme für das Militär und den Schutz der Bevölkerung sind. In dieser technologischen Entwicklung müssen wir schnell einiges aufholen.
Apropos einiges aufholen: Kanzler Olaf Scholz hat der Ukraine mehrfach deutsche Unterstützung zugesichert – solange diese eben notwendig ist. Nun stockt die Freigabe von drei Milliarden Euro, weil sich die Parteien uneinig über die Finanzierung sind. Wie passt dieses zögerliche Verhalten zur aktuellen Bedrohungslage und sollte Deutschland eine Führungsrolle in der EU und der Nato übernehmen?
Ja, absolut. Deutschland sollte mehr Führung übernehmen. Als Scholz das Sondervermögen für die Bundeswehr angekündigt hatte, fiel mir vor Schreck eine Tasse aus der Hand. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das Sondervermögen war und ist ein gutes Zeichen. Das Problem dabei: Das Sondervermögen reicht nicht aus, um die Bundeswehr kampfbereit zu machen – und das wissen alle in Deutschland. Als stärkstes Land in der EU muss Deutschland für mehr Sicherheit in Europa sorgen. Ein Beispiel: Estland besitzt zurzeit drei bis vier einsatzbereite Brigaden. Deutschland könnte jetzt keine vier Brigaden in den Einsatz schicken. Die Bundesregierung sollte jährlich ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes mehr in die Bundeswehr stecken. Und wenn jemand behauptet, dass Deutschland dazu nicht in der Lage ist, lügt er. Dann fehlt alleine der politische Wille. In Estland haben wir eine sogenannte Verteidigungssteuer eingeführt, um mehr Geld in unsere militärischen Fähigkeiten investieren zu können.

Stärkere Investitionen in die eigenen Truppen sind vor allem mittelfristig wichtig. Kurzfristig benötigt die Ukraine finanzielle und militärische Unterstützung. Muss Europa mehr tun – insbesondere mit Blick auf Trump, der die Hilfe für die Ukraine zurückfahren könnte?
Unbedingt. Im letzten Jahr haben die europäischen Länder gemeinsam 0,1 Prozent ihrer Wirtschaftsleitung genutzt, um die Ukraine zu unterstützen. Umgerechnet bedeutet das auch: Jeder Bürger hat eine Tasse Kaffee investiert. Wenn wir diese Zahl auf zwei bis drei Tassen erhöhen, würde Russland diesen Krieg verlieren. Aber wir bleiben gemütlich und geben nicht genug Geld aus. Zu viele verstehen immer noch nicht, dass es im Ukraine-Krieg nicht nur um die Ukraine geht. Wenn Russland tatsächlich ein anderes Land angreift, wird die Rechnung für alle deutlich teurer. Ich plädiere dafür, dass jedes Land 0,25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Ukraine-Hilfe ausgibt. Wir sind eine starke Union – aber mental nicht bereit. Wir müssen zusammenhalten und unsere Wertegemeinschaft verteidigen.
Terras sagt: Die Bezeichnung „hybrider Krieg“ verharmlost Russlands Aggression
Wir haben jetzt viel über die Zukunft gesprochen. Allerdings führt Russland bereits einen hybriden Krieg gegen Europa. Welche Mittel nutzt der Kreml und welche Ziele verfolgen die Machthaber?
Ich mag die Bezeichnung „hybrider Krieg“ nicht. Diese Umschreibung verharmlost das russische Vorgehen, denn: Menschen denken, dass niemand durch eine hybride Kriegsführung stirbt. Das stimmt leider nicht. Ich spreche lieber von einer mehrdimensionalen Kriegsführung. Und: Diese Kriegsführung ist in allen Dimensionen gefährlich. Russland ist jedes Mittel recht. Es beeinflusst politische Prozesse, attackiert Bankensysteme, setzt auf Cyberangriffe, schafft diplomatische Konflikte und agiert verdeckt mit Spionen. Und letztlich setzt der russische Staat auch Waffengewalt ein, um seine Ziele zu erreichen – wie der Ukraine-Krieg zeigt. Russlands ist jedes Mittel recht. Im Kalten Krieg wurden immerhin noch gewisse Regeln eingehalten. Heute führt Putin einen regellosen Krieg.
Welches primäre Ziel verfolgt Russland? Geht es um die Destabilisierung Europas?
Die Destabilisierung ist nur das Mittel zum Zweck. Russland will die Sicherheitsordnung in Europa umgestalten. Die Machthaber schwärmen über die gute alte Sowjetzeit. Für Putin war die Auflösung der Sowjetunion das größte Verbrechen im letzten Jahrhundert. Er will die Zeit vor 1990 wiederherstellen und die Union zersplittern. Dass wir nach Beginn des Ukraine-Krieges Einigkeit bewiesen hatten, war für Putin die größte Überraschung. Wir müssen uns weiter gegen die Feinde der Demokratie wehren. Dabei geht es nicht nur um Russland. Auch China und Iran sind sehr gefährlich.
An welche konkreten Maßnahmen denken Sie?
Ein gutes Beispiel sind die zwei zerstörten Kabel in der Ostsee. Wir müssen besser gegen Putins Schattenflotte vorgehen und etwaige Unternehmen stärker sanktionieren. Zudem könnte die EU beispielsweise folgende neue Verpflichtung beschließen: Alle Schiffe müssen ihre Aktivitäten transparent mit Kameras aufzeichnen. Wer das nicht tut, wird verstärkt beschattet. Nicht immer müssen unsere Abwehrmaßnahmen teuer und kompliziert sein. Im Kampf gegen Russland ist eines besonders wichtig: der europäische Zusammenhalt. (Interview: Jan-Frederik Wendt)