Jetzt kommen Sie doch einfach mal näher. Nein, noch näher. Sollen ja nicht alle alles mitbekommen. Schließlich sind 44 Prozent der Deutschen der Meinung, dass sie ihre Meinung nicht mehr frei äußern können.
„Warum ist das so, warum fühlen sich so viele nicht mehr frei?“, ist die Frage, mit der die ZDF-Doku „Am Puls“ durch Deutschland reist – und uns unser Land ausgerechnet am „Tag der Deutschen Einheit“ vorführt. Natürlich beginnt die Fahrt: in Sachsen. Und was bekommen wir zu hören? „Wenn man anders denkt, so wie wir, weil man kann uns nicht mehr für dumm verkaufen, dann heißt es, wir sind rechtsradikal.“
Meinungsfreiheit? Die gab’s – damals, in der DDR
Diese erste Meinung, die man offensichtlich doch frei sagen darf, sammelt Reporter Mitri Sirin in Döbeln ein, Große Kreisstadt, 24.000 Einwohner. Ehrlicherweise musste er sich wohl einigermaßen mühen. Nicht viele wollten mit dem Mann vom ZDF sprechen. „Das ist bloß DDR 2.0“, erfährt der Reporter. Und staunt, als er von diesem Paar in Sachsen zu hören bekommt: „Wir hatten zwar nicht viel. Aber du konntest deine Meinung frei äußern. Nur wenn man ganz krass staatsfeindlich war, wurde man weggesperrt.“
Schnell bildet sich eine kleine Gesprächsgruppe. Eine weitere Frau ergänzt, dass sie auf Facebook gesperrt werde, es komme zum „sozialen Ausschluss“. Und dann wird sich die Gruppe einig: „Wir sind 1989 nicht auf die Straße gegangen, um DAS hier zu erleben!“

Angriffe? Mit der Faust und über die Finanzen
Was andere erleben? Mitri Sirin trifft Judith Schilling, die sich seit 15 Jahren ehrenamtlich in einem Verein für Vielfalt und Integration einsetzt. Die junge Frau aus Döbeln berichtet, wie sich die Angriffe verändert haben. Sie kenne noch körperliche Angriffe. „Inzwischen hat sich die Form der Angriffe verändert“, sagt Schilling. Seit die AfD zur stärksten politischen Kraft in Döbeln geworden ist, werde vor allem die Finanzierung ihres Vereins attackiert.
Es zeichnet „Am Puls“ aus, dass die ZDF-Sendung durchaus auch an Angriffe auf AfD-Politiker verweist und erinnert, dass deren Parteibüro 2019 auch angegriffen wurde. Deren Mitglieder fühlen sich übrigens besonders unfrei. „Es ist besser, mit der politischen Meinungsäußerung vorsichtig zu sein“, sagen 62 Prozent der AfD-Mitglieder. Auf Platz zwei folgt die FDP mit 57 Prozent. SPD, Linke, CDU und CSU sind nahezu gleichauf zwischen 46 und 43 Prozent. Am freiesten fühlen sich die Grünen mit 19 Prozent.

„Würde ich Sie auf der Straße treffen, würde ich Sie totschlagen“
Es ist die Stelle, wo sich der ZDF-Reporter selbst zu seiner Meinung bekennt. „Es gibt hier in Deutschland eine Geschichte, historisch sensibel“, sagt er, „und es gehört zum absoluten politischen Fundament dieses ,Nie wieder‘ – meiner Meinung nach.“ Er trifft den Politikwissenschaftler Richard Traunmüller. „Ich warne nur davor einen Fehler zu begehen“, antwortet der, „wenn wir Intolerante tolerieren, werden wir intolerant.“
Das ist das so genannte „Toleranzparadox“. „Wie kann man sich verteidigen, gegen illiberale Kräfte, ohne selbst illiberal zu werden?“ Die Ampelregierung hat sich zur Selbstverteidigung für Politiker entschieden und den Paragraphen 188 verschärft. Gegen Beleidigungen geht übrigens die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann am härtesten vor. Sie hat von 2022 bis 2024 gleich 1979 Anzeigen erstattet, vor den Grünen Robert Habeck (805) und Annalena Baerbock (514).
„Es gibt Grenzen“, versichert Strack-Zimmermann und verliest eine Mail, die sie bekommen hat: „Was für eine scheißkranke Frau sind Sie, jedes Mal, wenn ich sie höre oder sehe, muss ich kotzen. Hitler wäre stolz auf Sie. Würde ich Sie auf der Straße treffen, würde ich Sie totschlagen. Aber leider ist das nicht möglich, da solche Scheiß-Nazis wie Sie sehr geschützt sind.“

Ein Gericht lehnt das Bußgeld ab
Wo also endet Meinungsfreiheit? Die Rentnerin Marlies Kade ist von Agnes Strack-Zimmermann angezeigt worden. Sie sollte 600 Euro an die FDP-Politikerin zahlen, 300 Euro an deren Anwalt. Sie hatte geschrieben: „Die Frau Zimmermann geht mit der Waffen-Industrie ins Bett. Warum wird diese Kriegstreiberin nicht eingesperrt?“
Die Richterin hat das Bußgeld abgelehnt. Ein Triumph? „Ich war traurig“, sagt Marlies Kade. Jemanden zu kritisieren, müsse doch zulässig sein: „Politiker müssen Druck und Beleidigungen aushalten können.“ Da tupft sich die Rentnerin eine Träne ab.
Auch eine ganz andere Form von Entrüstung zeigt das ZDF: „Gibt es Meinungsfreiheit in Deutschland? Wer das fragt, der hat keine Ahnung, wie Unfreiheit aussieht.“ Dieser Satz kommt von Thomas Klingenstein. Als 18-Jähriger saß er monatelang in Untersuchungshaft – weil er Gedichte verfasst hatte. Das war auch Osten. Aber ein paar Jahre früher. Da hieß der noch DDR.