Magdeburg-Prozess im Ticker: Jetzt bekommen die Betroffenen das Wort

Wichtige Protagonisten:

  • Taleb al Abdulmohsen: Angeklagter
  • Dirk Sternberg: Vorsitzender Richter
  • Thomas Breiter und Thomas Rutkowski: Verteidiger
  • Matthias Böttcher: Oberstaatsanwalt
Taleb A. kommt am Montagmorgen am Gericht in Magdeburg an
Taleb A. kommt am Montagmorgen am Gericht in Magdeburg an dpa

"Mit dem Prozess kommt vieles wieder hoch", sagt die Zeugin zum Abschluss, manches auch erst jetzt so richtig, was sie an sich ranlasse. "Ich wollte nicht wahr haben, dass mich jemand umbringen wollte", sagt sie. Lange habe sie sich auch nicht als Opfer, sondern als Betroffene bezeichnet, sagt sie mit abgesenkter Stimme: "Eigentlich bin ich ein Opfer."

Auch S. erzählt von Schuldgefühlen der Freundin, die den Besuch auf dem Weihnachtsmarkt vorgeschlagen hatte. Doch da vertritt die Geschädigte eine klare Haltung. "Die Schuld hat nur einer!" Nämlich der, der gefahren ist: Taleb al Abdulmohsen.

Obwohl S. eine psychologische Behandlung abgelehnt hat - sie versuche lieber, zu verdrängen und zu vergessen, als die traumatischen Erlebnisse immer wieder aufzurollen - ist sie jetzt im Gericht erschienen. "Ich finde unmöglich, wie der Angeklagte sich hier die Bühne nimmt", sagt die Zeugin und richtet persönliche Worte direkt an al Abdulmohsen: "Bin ich weniger wert als eine saudische Frau?!" Der zeigt zwar keine erkennbare Reaktion in seiner Glaskabine, doch die 57-Jährige kann im Gericht klar ihren Punkt machen: "Ich wollte meine Geschichte erzählen." Sie mache das für sich und ihre Freunde.

Auch S. und ihr Mann trugen Verletzungen von der Amokfahrt davon. Multipler Bänderschaden am Knie, Prellungen überall, Glassplitter in der Wange. "Mein halber Kopf ist taub", erzählt sie von fortwährenden Problemen. Ihre drei Kinder hätten sie in der Zeit nach dem Krankenhaus weiter unterstützt. Die Tochter zum Beispiel beim Duschen. "Ich habe mich gefühlt wie eine Fünfjährige", sagt sie.

Nach längerer Arbeitsunfähigkeit ist die Verwaltungsassistentin aktuell wieder im Büro. "Ich brauche ein paar Monate mal wieder ein normales Leben", sagt S.. Laufen könne sie zwar immer noch nicht gut: "Man ist überall eingeschränkt." Doch das weitere Leben will sie sich von al Abdulmohsen nicht auch noch nehmen lassen. "Ich hoffe, dass dieses Weihnachten schöner wird als letztes Jahr", sagt sie mit einem leichten Lächeln.

Unter Tränen schildert Überlebende Marion den Moment des Anschlags

Schmalzkuchen, Glühwein, Freunde treffen: "Der Weihnachtsmarkt gehört dazu." Mit brüchiger Stimme erzählt Marion S. von dem Moment, der diese Atmosphäre zerstören sollte, als sie gerade mit Freunden anstoßen wollte und sie das Geräusch zu ihrer linken Seite hörte: "Dann kam schon dieses große, schwarze Auto." Sie erinnere sich nur noch, wie ihr Kopf auf der Motorhaube aufschlägt. "Als ich wach wurde, war das reinste Chaos um mich rum." Sie habe erst nicht einordnen können und trotz kaputten Beins aufstehen wollen. Ihr Mann habe eine Rückenverletzung davongetragen. Unter Tränen erzählt die Zeugin, wie sie zwischen zwei Menschen auf der Straße saß, die später ihr Leben verloren. Sie könne sich jetzt freuen, dass sie ihres noch habe. Auch im Publikum müssen einige Zuschauer die Taschentücher zücken, um Tränen abzuwischen.

Sternberg verweigert dem Angeklagten das Wort. Al Abdulmohsen hebt weiter die Hand und fordert, sich erklären zu dürfen. Es geht darum, ob er gewonnen habe. Der Vorsitzende Richter erkennt darin jedoch keinen Zusammenhang zur Zeugenaussage.

Obwohl die Zeugin bereits entlassen ist, bricht al Abdulmohsen einmal mehr die mündliche Absprache und will eine Nachfrage stellen. "Muss das sein?", fragt Sternberg. "Der Angeklagte besteht darauf", sagt einer seiner Anwälte. Dafür müsste die Zeugin im Zweifel noch einmal geladen werden. Auch bei der Erklärung soll der Verteidiger noch einmal besprechen, ob das wirklich notwendig ist.

"Wir wollen nicht, dass er gewonnen hat!", sagt die 38-Jährige. Trotz aller Schmerzen und Leiden will V. wieder zurück in einen Alltag finden, hat mit ihrem Partner kürzlich einen kleinen Weihnachtsmarkt auf einem eingezäunten Gutshof besucht; um sich ranzutasten. Richter Sternberg zollt der Zeugin seinen Respekt und wünscht gute Besserung.

V.s Freund blieb zwar unverletzt, doch die Amokfahrt habe auch bei ihm Spuren hinterlassen. "Er macht sich Vorwürfe, dass wir uns getrennt haben", sagt die Zeugin. Denn als sie angefahren wurde, war sie alleine auf dem Weg vom Bratwurst- zum Grünkohlstand. Ihr Partner werfe sich vor, sie nicht beschützt zu haben: "Er hat Wut in sich." Das merke sie daran, dass er sie am Gehweg auf die Innenseite schubse, wenn ein Auto von hinten komme. "Er hat auch damit zu kämpfen. Aber er würde es nicht zugeben." Sie selbst sei aktuell wieder arbeitsunfähig.

Mehr als drei Liter Blut verloren: Überlebende schildert unglaubliches Martyrium

Die Zeugin beschreibt eine Tortur der Genesung, die auch ein Schlaglicht auf das deutsche Gesundheitssystem wirft. "Der Kampf geht immer noch weiter", sagt sie. Zwei Operationen habe sie benötigt, durch das Umlegen habe sich dann noch ihre Verletzung am Kreuzbein verschlimmert. Nach zehn Tagen im Bett hätten die Muskeln stark abgebaut. Selbst das Setzen in den Rollstuhl habe sie trainieren müssen. Ein Liegendtransport nach Hause, das Pflegebett in der 40-Quadratmeter-Wohnung - sie habe sich ausgeliefert gefühlt. Ob beim medizinischen Dienst oder der Krankenkasse: Überall habe sie sich rechtfertigen müssen. "Mein Freund hat das alles aus Liebe gemacht", berichtet sie von großer Unterstützung. Allein um die Reha habe sie sich ein halbes Jahr bemühen müssen. Schmerzen habe sie noch immer.
Lange habe sie sich nicht mehr ins Auto getraut und für alle mitgedacht. "Ich habe immer noch Angst in Menschenmassen", sagt sie. Sie versuche, dass ihr Rücken frei bleibe, scanne alle Menschen: "Ich habe Angst vor bestimmten Menschentypen." Zudem sei ihr durch die Beckenverletzung wahrscheinlich die Möglichkeit genommen, Kinder auf natürlichem Weg zu gebären.

Der Vorsitzende Richter fragt angesichts dieser Leidensgeschichte: "Wie haben Sie die Kraft gefunden, hier heute als Zeugin auszusagen?" Die 38-Jährige erwidert nüchtern: "Ich finde wichtig, dass die Opfer auch gehört werden." Nicht nur der Täter solle eine Bühne bekommen.

Nadine V. wurden bei der Amokfahrt unter anderem Becken und Bein gebrochen. Die 38-Jährige besuchte mit ihrem Partner den Weihnachtsmarkt. "Ich mag so gerne Weihnachtsmärkte", sagt sie. Beim Essen sei sie dann plötzlich vom Auto erfasst worden und bewusstlos gewesen. Ihr Freund, ein Bundeswehrangehöriger, habe sie dann zwischen die Stände gezogen - aus Angst, der Attentäter könne zurückkommen. "Ich hatte tierische Schmerzen", erzählt V. vom ersten Aufwachen: "Ich habe immer gefragt, ob ich träume." 3 bis 3,5 Liter Blut habe sie durch die Verletzung verloren. Ihr Leben verdanke sie den Helfern vor Ort. "Die Hilfsbereitschaft war echt enorm", sagt sie. Diesen Glauben an die Gemeinschaft habe sie zuvor verloren - und jetzt wiedergefunden.

Auch an den Angeklagten richtet der Vorsitzende Richter einige Worte, bevor die Zeugen aufgerufen werden. Sternberg erinnert al Abdulmohsen daran, dass zugestimmt habe, "im Grundsatz keine Fragen zu stellen", alternativ über seinen Rechtsanwalt. Die Zeugen seien ohnehin schon stark belastet und hätten sich schwer zu überwinden, hier überhaupt zu erscheinen. Fragen könnten eine zusätzliche Belastung für sie bedeuten.

Drei der acht Zeugen zeigen sich bereit, Fragen der Verteidigung zu beantworten.

Zum Auftakt macht Richter Sternberg eine Ansage ans Publikum. "Wir sind hier keine Theaterveranstaltung, kein Kino", sagt er. Im Publikum befänden sich auch Angehörige von Verletzten und Getöteten. Ein Angehöriger habe sich ans Gericht gewandt und von unangemessenen Reaktionen berichtet. Der Vorsitzende Richter bittet daher, Rücksicht zu nehmen. "Es gehört sich auch nicht, wenn Sie kommentieren, sich laut unterhalten, lachen", stellt er klar. Sollte jemand wiederholt auffallen, könnten die Wachtmeister die Person aus dem Zuschauerbereich entfernen.

Taleb al Abdulmohsen wird in den Gerichtssaal geführt und nimmt in seiner Glaskabine Platz. Zwei vermummte Polizisten stehen hinter ihm und bewachen die Tür. Außerhalb stehen gerade noch die Anwälte und der Dolmetscher und unterhalten sich, während die Presse bis zur Fortsetzung der Verhandlung Aufnahmen im Saal anfertigen darf.

Magdeburg steht eine weitere emotionale Woche bevor. Mehrere Geschädigte und Angehörige von Getöteten sind als Zeugen geladen. Allein am Dienstag will das Landgericht Magdeburg die Erlebnisse von acht Betroffenen hören, darunter eine Angehörige einer getöteten Frau. 

Bereits bei den drei Zeugen in der Vorwoche (siehe unter diesem Eintrag) hat sich gezeigt, wie tief insbesondere die seelischen Narben sind, die Taleb al Abdulmohsen den Besuchern des Weihnachtsmarktes zugefügt hat. Der Verhandlungstag beginnt um 9.30 Uhr, FOCUS online berichtet im Liveticker.