Merz‘ Patientenbeauftragter will Krankenkassen-System „grundlegend“ ändern: „Würde allen helfen“

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Der Patientenbeauftragte will das Zwei-Klassen-System aus Gesetzlich- und Privatversicherten ändern – er fordert im Interview ein Modell, „das sich alle leisten können“.

Stefan Schwartze ist seit 2022 Patientenbeauftragter der Bundesregierung. Das Amt gibt es seit 20 Jahren. „Meine Aufgabe ist es, die Rechte von Patientinnen und Patienten zu stärken und sie bei allen Gesetzgebungsverfahren zu berücksichtigen“, sagt Schwartze im Interview mit dem Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA. Im Gespräch träumt der SPD-Politiker auch von einer Bürgerversicherung. Er will das Krankenkassensystem „grundsätzlich“ ändern und die Bevorzugung von Privatpatienten beenden. Schwartze spricht auch über „gefährliche IGeL-Leistungen“ und seinen Plan zur Organspende.

Herr Schwartze, die Patienten leiden unter den Beitragserhöhungen. Wie nehmen Sie das wahr?

Ich sehe die Belastung für die Menschen. Wir wollen eine vernünftige Gesundheitsversorgung für alle, die aber auch bezahlt werden muss. Dabei können wir in vielen Bereichen in unserem Gesundheitssystem nicht nur besser, sondern auch kostengünstiger werden. 

Wo? In welchen Bereichen?

Beispielsweise über 200.000 Patientinnen und Patienten kommen jährlich aufgrund von Fehlmedikation ins Krankenhaus. Vieles ließe sich durch elektronische Patientenakten und KI-Einsatz verhindern. So könnten Medikamente abgeglichen und Fehler vermieden werden. 

Stefan Schwartze im Deutschen Bundestag
Stefan Schwartze sitzt seit 2009 für die SPD im Deutschen Bundestag, seit drei Jahren ist der Ostwestfale Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten, wie sein Amt offiziell heißt. © IMAGO/dts Nachrichtenagentur

Die Bundesregierung plant ein verbindliches Primärarzt-System. Wie wird das die Patienten betreffen?

Das ist grundsätzlich eine gute Idee, da es die Wege im Gesundheitssystem gezielter koordiniert. Wir müssen aber darauf achten, nicht bei allen Fachärzten den Hausarzt vorzuschalten. Ausnahmen sollte es beispielsweise für Augenärzte geben. Bei chronischen Erkrankungen, bei denen Patientinnen und Patienten seit Jahren zu ihrem Spezialisten gehen, müssen diese Wege ebenso offen bleiben. Die freie Arztwahl muss erhalten bleiben – wie soll sonst ein Arzt-Patienten-Vertrauensverhältnis entstehen?

Es soll auch eine Termingarantie geben. Ist das überhaupt umsetzbar? 

Wenn wir Patientinnen und Patienten gezielter koordinieren, werden bei Fachärztinnen und -ärzten wieder Termine frei. Klar ist: Jemand mit einem dringenden Problem muss einen schnellen Termin bekommen und nicht monatelang warten.

Neues Patientenrechtegesetz: „Etliche IGeL-Leistungen sind gefährlich“

Im Koalitionsvertrag heißt es: „Bei medizinischen Behandlungen stärken wir Patientinnen und Patienten gegenüber den Behandelnden“. Was bedeutet das?

Für mich bedeutet das: Wir überarbeiten das Patientenrechtegesetz, das wir seit zwölf Jahren haben. Es ist gut, gehört aber angepasst. Federführend dafür ist das Justizministerium, momentan finden erste Gespräche statt. Ich habe große Hoffnung, dass das in dieser Wahlperiode klappt. Denn es braucht Verbesserungen für die Patientinnen und Patienten.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Etwa bei der Ausweitung der Einsichtsrechte in die Unterlagen. Ich habe das Recht, meine Patientenakte einzusehen, bekomme sie aber oft nicht, muss dafür bezahlen oder erhalte nur Ausschnitte. Zudem muss der Patient bei Behandlungsfehlern darlegen, dass seine gesundheitlichen Beschwerden allein durch den Behandlungsfehler entstanden sind – mit absoluter Sicherheit. Bei den komplexen Vorgängen des menschlichen Körpers und unterschiedlichen Vorerkrankungen ist das ein schwieriges Verfahren.

Wie sollte man es ändern?

Wir müssen das Beweismaß senken – auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit. Das ist für viele Patientinnen und Patienten, die jahrelang vor Gerichten verbringen, wichtig. Änderungsbedarf sehe ich auch bei den IGeL-Leistungen, von denen ein Großteil nicht sinnvoll ist.

IGeL-Leistungen

IGeL-Leistungen sind „individuelle Gesundheitsleistungen“, die nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehören und daher von Patienten selbst bezahlt werden müssen. Sie umfassen Untersuchungen und Behandlungen, die über das medizinisch notwendige Maß hinausgehen, wie etwa bestimmte Vorsorgeuntersuchungen oder kosmetische Eingriffe.

Was ist denn nicht sinnvoll?

Etliche sind nicht nur nicht sinnvoll, sondern gefährlich. Beispiel Vorsorgeuntersuchung beim Gynäkologen: Ultraschalluntersuchungen können zu Eierstockkrebs führen. Statistisch ist es gefährlicher, sich untersuchen zu lassen, als dies nicht vorzunehmen. Keine Fachgesellschaft empfiehlt deshalb die Ultraschalluntersuchungen zur Früherkennung von Eierstockkrebs.

Interessensvertreter aus der Ärzteschaft würden die Leistungen trotzdem gerne beibehalten. 

Ja, weil damit bares Geld verdient wird. Aber es kann nicht sein, dass man bei manchen Arztpraxen eine solche IGeL-Dienstleistung bei der Terminvergabe direkt dazubuchen muss, weil man sonst gar keinen Termin bekommt.

Zwei-Klassen-System aus Gesetzlich- und Privatversicherten: „Solche Funktionen gehören abgeschaltet“

Ist das so?

Solche Angebote gibt es leider. Bei der Terminvergabe ist es schwierig für Patientinnen und Patienten. Es gibt Portale, die abfragen, ob man privat oder gesetzlich versichert ist. Für Privatpatientinnen und -patienten gibt es dann noch Termine, für gesetzlich Versicherte keine. Solche Funktionen gehören abgeschaltet.

90 Prozent in Deutschland sind gesetzlich versichert. Die zehn Prozent der Privatversicherten werden also begünstigt? 

Bei der Terminvergabe ist das so. Aber nicht nur dort gibt es Probleme. Ich war zwölf Jahre im Petitionsausschuss und erlebte viele Petitionen von Menschen, die im Alter die private Krankenversicherung nicht mehr zahlen konnten, weil die Prämien zu hoch wurden. Allein deshalb ist es sinnvoll, grundsätzlich ans System heranzugehen.

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Patientenbeauftragter Schwartze: „Ich bin für eine Bürgerversicherung“

Das heißt?

Ich bin grundsätzlich für eine Bürgerversicherung. Das würde allen gleichermaßen helfen. Dass wir das in dieser Wahlperiode nicht erreichen werden, ist aber auch jedem klar.

Die SPD hatte es zwar im Wahlprogramm versprochen, die Union lehnt eine Bürgerversicherung aber entschieden ab. War das in der Ampel wirklich gar keine Option, das Thema zusammen mit den Grünen anzustoßen?

Nein, das Aus der Bürgerversicherungspläne war Grundvoraussetzung für den Koalitionseintritt. Wir hätten es gerne gemacht.

Träumen Sie mal ein bisschen: Wie würde so eine ideale Bürgerversicherung für Sie aussehen?

Die Bürgerversicherung würde dafür sorgen, dass alle in der medizinischen Versorgung gleich behandelt werden und nicht eine Gruppe durch ihre Versicherung Vorteile hat. Sie würde ein Krankenversicherungssystem schaffen, das sich alle leisten können – eines, in dem ältere Menschen in schwierigen wirtschaftlichen Situationen nicht in extreme Probleme geraten.

Widerspruchslösung bei Organspende: Schwartze will Recht „grundlegend verändern“

Sie haben sich vergangenes Jahr das Organspende-Motiv tätowieren lassen. War das nur eine PR-Aktion, oder haben Sie dadurch wirklich was bewegt?  

Schauen Sie, hier ist es (Schwartze krempelt sein Hemd nach oben und zeigt sein Tattoo). Natürlich wollte ich damit Aufmerksamkeit erregen und für das Thema sensibilisieren. Leider haben wir das Vorhaben durch das frühzeitige Regierungsende nicht mehr umsetzen können. Ich gehöre nun in meiner Rolle als MdB wieder einer Gruppe im Bundestag an, die das Organspenderecht noch einmal grundlegend verändern will. 

Organspende-Tattoo im Bundestag Stefan Schwartze
Im Mai 2024 ließ sich SPD-Politiker Stefan Schwartze das Organspende-Tattoo stechen. Das Design besteht aus drei geometrischen Formen: einem ganzen sowie zwei Halbkreisen darunter. Diese Formen bilden zusammen die Buchstaben „O“ und „D“ für „Organ Donor“ (englisch für Organspender). © Fabian Sommer/picture alliance

Inwiefern?

Wir wollen die Widerspruchslösung in Deutschland einführen. Das heißt: Jede Person behält ihre freie Wahl, aber wer nicht Organspenderin oder -spender sein möchte, muss aktiv widersprechen. Es wird einen weiteren Versuch geben, das Thema in dieser Wahlperiode anzusprechen. So oder so müssen wir bei der Organspende aber nachschärfen.

Und zwar?

Wir müssen mehr Spenderinnen und Spender finden und die Strukturen verbessern. Ein Weg ist die Novellierung der Lebensspende, wodurch die Organspende bei Nieren erleichtert wird. Außerdem geht es um Patientenerkennung, etwa durch Transplantbeauftragte. Die Uniklinik Dresden erfasst beispielsweise mit KI-Hilfe entsprechende Werte für potenzielle Organspenden. Das Projekt zeigt erste Erfolge und ich möchte prüfen, ob sich das flächendeckend oder in größeren Häusern anwenden lässt. Organspende rettet Menschenleben. Insofern habe ich mir das Tattoo aus absoluter Überzeugung stechen lassen. Es war mein erstes und wird übrigens auch mein letztes sein. (Interview: Andreas Schmid)

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