Warum Südafrika Israel einen Völkermord vorwirft und vor Gericht zerrt
Erstmals muss sich Israel für seine Politik gegen die Palästinenser vor Gericht verantworten. Es ist kein Zufall, dass die Klage von Südafrika kommt.
Den Haag – Seit Donnerstag (11. Januar) muss Israel sich vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag verantworten. Südafrika reichte mit einem Eilantragsverfahren am 29. Dezember Klage gegen Israel ein. Der Vorwurf: Israel würde sich mit seinem harten militärischen Vorgehen im Gazastreifen „völkermörderischen Handelns“ schuldig machen und gegen die Völkermordkonvention der UN verstoßen.
Dem Staat, der erst als Konsequenz des Völkermords der deutschen Nazis an den Juden entstanden ist, wird nun also vorgeworfen, selber einen Völkermord zu verüben. Auf 84 Seiten geht Südafrika in seiner Klageschrift auf die Gewalt Israels gegen die Menschen im Gazastreifen ein und beschreibt diese als Taten mit einem „genozidalen Charkater“.

Tatsächlich sind nach Angaben des von der Hamas kontrollierten, aber als glaubwürdig eingeschätzten Gesundheitsministeriums von Gaza mittlerweile mehr als 20.000 Menschen in dem Krieg Israels gegen die Hamas gestorben. Die große Mehrheit davon Zivilisten. Die UN bezeichnet den Gazastreifen mittlerweile als „unbewohnbar“. Eine Niederlage vor dem IGH wäre für Israel eine große symbolische Niederlage, auch wenn das UN-Gericht selbst keine Handhabe hat, ein Urteil auch zu vollstrecken.
Vorwürfe gegen Israel
Der Vorwurf, Israel betreibe einen Völkermord gegen die Palästinenser, ist nicht neu. Seit dem 7. Oktober wird er auf Demonstrationen auf der ganzen Welt erhoben, insbesondere in der arabischen Welt. An diesem Tag begannen die großflächigen Luftangriffe Israels gegen den Gazastreifen, nachdem die dort herrschende Hamas in einem nie dagewesenen terroristischen Großangriff über 1200 Menschen ermordet und rund 250 als Geiseln verschleppt hatte. Aber warum ergreift nun das weit entfernte Südafrika die Initiative und geht diesen spektakulären Schritt?
Bereits vor seinen Gang vor das höchste UN-Gericht hat Südafrika in Reaktion auf Israels Krieg in Gaza viele Brücken zu Israel abgebrochen. Sein diplomatisches Personal hat es im November 2023 aus dem Land abgezogen, wie die Jüdische Allgemeine berichtete. Im selben Monat beschloss das südafrikanische Parlament die Schließung der israelischen Botschaft in Pretoria.
Schon Anfang März 2023, ein halbes Jahr vor dem Krieg in Israel, beschloss das Parlament in Pretoria überdies eine Herabstufung der südafrikanischen Botschaft im israelischen Ramat Gan. Südafrika könne nicht länger tatenlos zusehen, während „auf palästinensischen Menschenrechten herumgetrampelt wird“, sagte damals laut dem Nachrichtenportal israelnetz ein Abgeordneter der Partei Nationalen Freiheitspartei (NFP), die die Resolution eingebracht hatte.
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Israel und Südafrika haben ein historisch belastetes Verhältnis
Mit der Klage vor dem IGH hat das Verhältnis zwischen Südafrika und Israel nun einen neuen Tiefpunkt erreicht. Es war aber schon seit langer Zeit ein sehr belastetes Verhältnis, was nur verständlich wird, wenn man bis zur Zeit der Apartheid zurückgeht. In den 1960er Jahren sympathisierten afrikanische Länder, die damals reihenweise ihre Unabhängigkeit erklärten, noch mit Israel. Sie sahen in dem jungen Staat der Juden, der letztlich das Ergebnis einer rassistischen Vernichtungspolitik durch eine weiße Macht war, einen potenziellen Verbündeten.
Das galt auch für den heute regierenden ANC (African National Congress), der seine politische Existenz als Widerstandsbewegung gegen das Apartheidsregime begann. Die Kriege, die Israel bald darauf gegen arabische Mächte führen musste, änderten diese Sichtweise aber. Mit dem Sechstagekrieg 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg 1973 eroberte Israel den Gazastreifen, den Sinai, das Westjordanland und Ostjerusalem – Gebiete, die zuvor zu Ägypten beziehungsweise Jordanien gehört hatten.
Südafrikas Widerstandskämpfer solidarisierten sich früh mit den Palästinensern
Israel wurde nun von den afrikanischen Ländern als Besatzungsmacht angesehen, was seinem Ansehen enorm schadete, schließlich waren diese Länder selbst lange Zeit Opfer kolonialer Unterdrückung. Der südafrikanische ANC sah in der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO Leidensgenossen, mit denen man sich gerne solidarisierte. In den 1980er Jahren wurde unter dem ANC-Führer Nelson Mandela aus dieser Solidarität sogar ein strategisches Bündnis, wie der Standard ausführt.
Nach seiner Freilassung Anfang 1990 war Mandela ein lautstarker Unterstützer der PLO und ihres damaligen Führers Jassir Arafat. „Wir identifizieren uns mit der PLO, weil sie genau wie wir für das Recht auf Selbstbestimmung kämpfen“, sagte er damals, wie das Nachrichtenportal Vox berichtet. Arafat war einer der ersten ausländischen Politiker, die Mandela nach seiner Freilassung empfing.
Israel suchte die Nähe zum rassistischen Regime der Apartheid
Eine andere Entwicklung förderte die Annäherung zwischen ANC und PLO maßgeblich. Israel ging damals seinerseits auf das rassistische Apartheidsregime in Südafrika zu und baute eine Art strategische Partnerschaft mit den Machthabern auf. Diese Annäherung ging so weit, dass der israelische Regierungschef Yitzhak Rabin und sein südafrikanischer Amtskollege John Vorster 1976 auf die „gemeinsamen Ideale Israels und Südafrikas“ anstießen.
Diese Partnerschaft erstreckte sich auch auf die Rüstungsindustrie. Ein großer Teil der israelischen Rüstungsproduktion ging in den 1970er und 1980er Jahren nach Südafrika. Als der internationale Druck auf das menschenverachtende Apartheidsregime dann immer größer wurde, war Israel einer der letzten Staaten, die sich den Sanktionen gegen Johannesburg anschlossen. Mit dieser Zusammenarbeit mit den rassistischen Unterdrückern machte sich Israel bei den südafrikanischen Widerstandskämpfern natürlich nicht sehr beliebt.
Südafrika: Vorbehalte gegen Israel sind geblieben
Auch Jahrzehnte später sind vielen (schwarzen) Südafrikanern Vorbehalte gegen Israel geblieben. Man sieht immer noch eine natürliche Verbundenheit zwischen den einstigen Kämpfern gegen die Apartheid und den Palästinensern, die seit über 70 Jahren unter der israelischen Besatzung leiden.
„Südafrika beschäftigt sich seit dem Ende der Apartheid und der Staatsgründung mit der Palästinenserfrage. Es ist ein wichtiges Thema in der südafrikanischen Politik und unter südafrikanischen Führern“, sagte Michael Walsh von University of California Berkeley, gegenüber Vox.
Südafrika hat auch geopolitische Gründe für sein Vorgehen gegen Israel
Jenseits dieser historisch begründeten Verbundenheit gibt es aber auch ein aktuelleres Motiv für das Vorpreschen Südafrikas gegen Israel. Die Klage vor dem IGH muss auch vor dem Hintergrund der geopolitischen Verschiebungen gesehen werden. Es geht Johannesburg laut Vox auch darum, die von den USA dominierte internationale Ordnung herauszufordern, die es als unfair gegenüber afrikanischen und nicht-westlichen Interessen ansieht. Der Gang vor den IGH, einer international anerkannten UN-Organisation, ist dabei ein mächtiger Hebel.
Das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof ermöglicht es Südafrika nun, an einem offiziellen Ort eine klare Erklärung zu Israels Vorgehen in Gaza abzugeben, dessen wichtigste Schutzmacht die USA sind: Es gebe internationale Unterstützung für die Palästinenser. Die unerbittlichen Bombardierungen der letzten drei Monate sowie die Verweigerung des Zugangs zu lebensnotwendigen Gütern sei eine dringende Angelegenheit von internationaler Bedeutung.
Das Bestreben Südafrikas, die Hegemonie des Westens infrage zu stellen, zeigte sich bereits mit dem Ukraine-Krieg. Südafrika gehört zu den Ländern, die Russland bis heute für seine Invasion der Ukraine nicht klar verurteilen. Stattdessen sucht man eine Annäherung an den Aggressor und hielt im Februar 2023 sogar gemeinsame Marinemanöver mit Russland und China ab.
Israel weist den Völkermord-Vorwurf von sich und nennt Südafrika einen „Arm der Hamas“
Israel seinerseits verwahrt sich vor dem Vorwurf, einen Völkermord an den Palästinensern zu begehen. Der Rechtsberater des israelischen Außenministeriums, Tal Becker, warf heute (12. Januar) in seiner Eröffnungsrede vor dem IGH Südafrika vor, „ein zutiefst verzerrtes faktisches und rechtliches Bild“ präsentiert zu haben. Es gehe Israel lediglich um Selbstverteidigung gegen die Hamas und „andere terroristische Organisationen“, so Becker. Südafrika versuche offenbar, „Israels inhärentes Recht auf Selbstverteidigung zu vereiteln“, so Becker.
Lior Haiat, Sprecher des israelischen Außenministeriums, ging sogar noch weiter. Auf der Plattform X, ehemals Twitter, warf er Südafrika vor, als „juristischer Arm der Terrororganisation Hamas“ zu fungieren. Ähnlich äußerte sich der israeliscche Regierungschef Benjamin Netanjahu. „Heute sahen wir wieder einmal eine auf den Kopf gestellte Welt, in der der Staat Israel des Genozids beschuldigt wird, zu einer Zeit, in der er einen Genozid bekämpft“, sagte er laut dpa am Donnerstag (11. Januar).