Kriegsende 1945: Auch nach 80 Jahren fehlen viele Dokumente - Diplom-Historiker erklärt die Gründe
Vor genau 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Vieles ist bekannt – viele Informationen fehlen aber bis heute. Simon Kalleder hat aber Hoffnung.
Es war ein wichtiger Wendepunkt. Für die ganze Welt, für Europa, Deutschland und Wolfratshausen. Als am 8. Mai 1945 die Niederlage Hitler-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und das Ende des millionenfachen Tötens feststand, brach eine neue Zeitrechnung an. Über den Tag der Befreiung ist heute zwar viel bekannt. Wie das Kriegsende vor Ort eingeläutet wurde – da klaffen große Lücken im Stadtarchiv und dem kollektiven Gedächtnis. Wie über die ganze NS-Zeit eigentlich. „Es ist ein dunkles Kapitel“, sagt Stadtarchivar Simon Kalleder. Und damit meint er den Kenntnisstand zu den Schicksalstagen vor genau 80 Jahren.
Das hat verschiedene Gründe. Bekanntermaßen versuchten einige Nazi-Kollaborateure nach dem Krieg schleunigst, kompromittierende Dokumente zu vernichten. Laut Kalleder gibt es aber noch mehr Gründe dafür, dass die Regalwände zum Weltkriegsende in Wolfratshausen dünner besetzt sind als die zu anderen Epochen. „Es war nicht die Zeit, um etwas für die Nachwelt zu verfassen. Für die Menschen war Chaos und alle hatten Angst.“ Die Amerikaner vor den SS-Soldaten. Die wiederum fürchteten sich vor den Amis. Und die normalen Bürger wussten nicht, wie es weitergeht. „Die Leute hatten anderes zu tun, als zu schreiben oder zu fotografieren.“
Verhör-Protokolle sind wichtige Quellen - Dokumente zum Kriegsende sind auf der ganzen Welt verstreut
Nach dem Krieg wurde viel über diese Zeit gesprochen und geschrieben. In Spruchkammern zum Beispiel, die eingerichtet wurden, um Behörden frei von überzeugten Nationalsozialisten und Kriegsverbrechern zu kriegen – sie zu „entnazifizieren“. Allerdings finden sich in Wolfratshausen keine Spruchkammer-Akten zu Politikern, Industriellen und Kirchenvertretern. Die Entnazifizierungs-Akte betreff Heinrich Jost beispielsweise, im März 1936 von der NSDAP zum Bürgermeister der Loisachstadt ernannt, liegt nicht in Wolfratshausen, sondern in einem anderen Archiv. Noch so ein Problem dieser Zeit: Die wenigen historischen Quellen sind weit verstreut. Manche lagern in Berlin, in München, teilweise im Ausland, den USA und Israel zum Beispiel.
Was an politischen Inhalten zu Weltkrieg und Kriegsende im Archiv an der Bahnhofstraße zu finden ist, hat „verschwindend geringen Informationswert“. Da gibt es etwa das Protokoll einer Debatte im Gemeinderat. Die dreht sich um die Frage, ob der Hausmeister des Rathauses eine höhere Besoldungsstufe erhalten solle oder nicht. Selbst große Historien-Fans können in diesen Aufzeichnungen wenig Aussagekräftiges erkennen. „Es gibt wenige Epochen, aus denen wir so wenig haben.“
Tagebücher, Aufzeichnungen und Dokumente: „Könnte noch viel geben“ in Speichern und Kellern
Vielleicht ändert sich das noch, zumindest erscheint es möglich. Denn in Speichern und Kellern könnten in Wolfratshausen durchaus noch historische Aufzeichnungen, Tagebücher, Dokumente oder andere Archivalien lagern. „Ich bin ziemlich sicher, dass es da noch viel geben könnte“, sagt Kalleder. Das hat er selbst erlebt, als er vor sieben Jahren eine Ausstellung zum Ersten Weltkrieg – er endete 1918 – organisiert hatte. „Da haben mehrere Wolfratshauser persönliche Dokumente und Tagebücher gebracht, die wir heute archiviert haben“, erinnert sich der 42-Jährige. Ob es eine gewisse Scheu gibt, Nazi-Akten ins Archiv zu bringen? Kalleder weiß es nicht.
Geschichten aus dem sogenannten Dritten Reich prüft der Diplom-Historiker sorgfältig. Denn nach dem Krieg entstanden Mythen. Spezl erklärten sich gegenseitig vor Gericht zu Regime-Gegnern. „Da haben dann Leute erzählt, dass sie sich immer heimlich getroffen haben, um BBC im Radio zu hören“, weiß Kalleder. Beweisen oder widerlegen lassen sich die wenigsten solcher Aussagen. „Das macht es natürlich schwer, weil man jede Quelle genau anschauen muss, weil man prüfen muss, welche Interessen hinter einer Aussage oder einer Niederschrift stehen.“ Bei Verwaltungsakten ist das anders: „Wenn in einem Dokument vermerkt wurde, dass zu einem bestimmten Datum 500 Juden deportiert worden sind, dann halte ich es für wahrscheinlich, dass es so auch gewesen ist.“
Immer wieder würden Studenten oder historisch interessierte Wolfratshauser zu der Zeit forschen. Einfach ist das nicht mehr: „Es gibt nur noch ganz wenige Zeitzeugen.“