Bürgergeld-Empfänger schimpft über Merz: "Keine Nächstenliebe, keine Empathie"

FOCUS online: Herr Wasielewski, Friedrich Merz (CDU) hat gesagt, das Bürgergeldsystem solle neu gestaltet werden - hin zu einer „Grundsicherung für Arbeitssuchende“. Sie sind seit zwölf Jahren im Bürgergeldbezug. Wie geht es Ihnen mit den Ankündigungen von Union und SPD nach den Sondierungsgesprächen?

Thomas Wasielewski: Das Ganze war bis zu einem gewissen Grad zu erwarten. Noch kurz vor der Wahl war ich bei der Abschlusskundgebung von Friedrich Merz in Oberhausen gewesen. Der zukünftige Kanzler, Jens Spahn, Carsten Linnemann: Alle waren sie da. Jens Spahn ist direkt an mir vorbeigegangen, ich hätte ihm auf die Schulter klopfen können.

Oder ihn beschimpfen?

Wasielewski: Das ist nicht meine Art. Das habe ich auch nicht getan, als ich zwei Wochen zuvor in der Sendung „Hart aber fair“ auf Tino Chrupalla von der AfD getroffen bin. Man weiß ja, wie seine Partei über die Schwächsten in der Gesellschaft denkt. 

Ich muss sagen: Die Herren in Oberhausen haben sich von diesen Aussagen nicht allzu sehr unterschieden. Vor allem Friedrich Merz habe ich sehr genau beobachtet. Ich stand keine zehn Meter von ihm entfernt.

Das Menschliche fehlt. Die Empathie

Was konnten Sie dabei feststellen?

Wasielewski: Er hat eine Show abgezogen. Viele würden wahrscheinlich sagen: eine gute Show. Aber Show bleibt Show und solche Sonntagsreden helfen niemandem. 

Was meinen Sie mit „Sonntagsrede“?

Wasielewski: Das Menschliche fehlt. Die Empathie. Schauen Sie, ich bin mit dem Zug nach Oberhausen gefahren. Das erste, was ich gesehen habe, als ich aus der Bahn gestiegen bin, war ein alter Mann, der nach Flaschen gesucht hat. 

Im Bahnhofsbereich stieß ich auf vier weitere ältere Männer, die teils bis zu den Schultern in der Mülltonne steckten. Mich hat das so schockiert, dass ich einen spontan mit dem Handy aufgenommen habe.

Sehen die Herren Politiker solche Szenen denn etwa nicht? Ich finde: Wer die Armut im Land ignoriert, plant an der Gesellschaft vorbei. Im Sondierungspapier finde ich keine Zeile dazu, wie die Armut im Land bekämpft werden soll. Nicht eine einzige. Das ist eine Tragödie für die Menschen, die diese Armut erleben!

Friedrich Merz, ein kühler Machtmensch

Bei der Abschlusskundgebung in Oberhausen, die Sie besucht haben, gab es noch kein Sondierungspapier.

Wasielewski: Stimmt, aber es gab bereits Ankündigungen, was die Union beim Bürgergeld vor hat und die habe ich mir im Vorfeld sehr genau angeschaut - um festzustellen, dass es auch hier nicht eine einzige Überlegung dazu gibt, wie es uns armen Menschen besser gehen soll. Vor Ort hat sich das komplett bestätigt.

Inwiefern?

Wasielewski: Wie gesagt, Friedrich Merz hat direkt vor mir gesprochen. Da stand ein kühler Machtmensch. Ich habe gespürt: Von dem habe ich keine Nächstenliebe zu erwarten. Der Auftritt des Kanzlerkandidaten hatte für mich nichts mit Christsein zu tun. 

Übrigens genauso wenig wie ein Lars Klingbeil von der SPD für mich etwas mit einem Sozialdemokraten zu tun hat. Die beiden Herren schenken sich nichts, beiden fehlt die Menschlichkeit. Das Argument, die Unnahbarkeit sei ein typisches Politikerproblem, so werde man eben im Politzirkus, lasse ich nicht gelten.

Was meinen Sie?

Wasielewski: Nur ein Beispiel, das zeigt, dass es auch anders geht: Zu Beginn der Neunzigerjahre habe ich Johannes Rau getroffen, unseren damaligen Ministerpräsidenten hier in Nordrhein-Westfalen. Da hatte ich einen Menschen vor mir! Jemanden mit Werten. Mit einem Fundament. Mit christlichen Wurzeln!

Die armen Menschen werden alle in einen Topf geworfen

Wie kam es zu diesem Treffen?

Wasielewski: Meine Frau und ich wollten damals gerne heiraten. Meine Frau war als Geflüchtete aus Afrika nach Deutschland gekommen, sie hatte mit drei gebrochenen Wirbeln zu kämpfen. Trotzdem sollte sie abgeschoben werden. 

Ich habe einen handgeschriebenen Brief an Johannes Rauh verfasst und ihm gesagt, dass ich mich gerne mit ihm unterhalten möchte. Über das Versprechen, das ich meiner Frau gegeben hatte, über meinen unbedingten Willen, dieses Versprechen zu halten und auch darüber, dass man Meschen nicht einfach so entfernen kann. Rau hat uns dann zu sich in die Staatskanzlei eingeladen.

Mit welchem Ergebnis?
Wasielewski: Meine Frau bekam zunächst eine Duldung, im nächsten Schritt konnten wir heiraten. Ganz klar, da war viel Goodwill im Hintergrund im Spiel.

Die Zeiten haben sich geändert, eine solche Einladung würde es heute vermutlich nicht mehr geben…

Wasielewski: Die Zeiten haben sich geändert, da sagen Sie was! Genau das ist ja das Schlimme: Die armen Menschen werden mittlerweile alle in einen Topf geworfen. Ständig hören wir aus der Politik so Schlagworte wie „Totalverweigerer“ oder „Sozialleistungsmissbrauch“. Ein sachlicher Umgang mit dem Thema Bürgergeld sieht anders aus!

Ich sehe keinen einzigen Punkt im Sondierungsprogramm, der Menschen dabei hilft, in Ausbildung zu kommen

Wie denn?

Wasielewski: Man muss differenzieren. Die Zahl der „Sozialschmarotzer“ ist in Wirklichkeit sehr gering. Zuletzt wurden nur sehr wenige der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten sanktioniert. Gerade mal 2,6 Prozent, wie in den Zeitungen zu lesen war. Über diese 2,6 Prozent wird aber den ganzen Tag geredet! Also, bleiben wir bitte bei den Fakten.

Gerne. In Deutschland leben 5,5 Millionen Menschen vom Bürgergeld. Nach einer aktuellen Auswertung des Unternehmens Index Research waren bundesweit zuletzt knapp 11,6 Millionen Stellen ausgeschrieben. Es müsste doch möglich sein, zumindest einen nennenswerten Teil der Leistungsempfänger in Arbeit zu bringen, oder nicht?

Wasielewski: Sehen Sie, da geht es schon los. 5,5 Millionen Menschen – das klingt in der Tat gewaltig. Wir dürfen aber nicht vergessen: Diese Zahl beinhaltet keinesfalls nur arbeitsfähige Menschen, sondern sehr viele Kinder, auch alte Menschen und natürlich solche mit Erkrankungen, die nicht arbeiten können.

Laut Statistiken der Bundesagentur für Arbeit gelten mehr als 1,7 Millionen Bürgergeldempfänger als erwerbsfähig. Das sind Menschen, die dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung stehen.

Wasielewski: Diese Zahl ist mir bekannt. Und es ist ja auch ein schönes Ziel, wenn man sagt, man will diese Menschen in Arbeit bringen. Es gibt aber andere Zahlen, die in die Rechnung mit reingehören. Niemand redet über die 550.000 Menschen, die gar keine Ausbildung haben. 

Meine Logik ist: Wenn man den Fachkräftemangel beheben möchte, sollte man sich um diese Menschen bemühen. Ich sehe aber keinen einzigen Punkt im Sondierungsprogramm, der Menschen dabei hilft, in Ausbildung zu kommen. Und damit langfristig in Arbeit. Wenn ich Leute in Jobs stecke, die sie schon nach drei Wochen wieder los sind…

Mittlerweile gelte ich für viele als Faulpelz, als Asozialer, als Parasit

Wer sagt das denn?

Wasielewski: Nun ja, es soll ja wieder der so genannte Vermittlungsvorrang eingeführt werden. Das wird aber nicht zu mehr Qualifizierung führen! Menschen in Helferjobs sind eine Null-Maßnahme gegen den Fachkräftemangel!

Betrifft dieses Thema Sie selbst?

Wasielewski: Bei mir ist die Situation anders. Ich bin aufgrund von Herzproblemen nur eingeschränkt arbeitsfähig. Wenn Sie es genau wissen wollen: Unter drei Stunden. Das ist von Amtsärzten geprüft und von der Rentenversicherung so festgeschrieben.

Ich habe als gelernter Außenhandels- und Datenverarbeitungskaufmann in der beruflichen Weiterbildung gearbeitet. Qualifikation ist bei mir nicht das vordergründige Problem.

Und auch nicht „Arbeitsverweigerung“?

Wasielewski: Das ist es ja gerade. Dank der verbalen Zuspitzung der Politik rund ums Thema Bürgergeld werde ich zunehmend in diese Schublade gesteckt. Mittlerweile gelte ich für viele als Faulpelz, als Asozialer, als Parasit. Die Wahrheit ist: Unsere Familie lebt mit weniger als dem Nötigsten. Aber darüber wird im Moment schon gleich gar nicht mehr geredet.

„Lässt unsereins hemmungslos im Stich

Worüber?

Wasielewski: Dass der Regelsatz bedarfsdeckend sein müsste. Ist er aber nicht. Um den 20. eines Monats ist bei uns Schicht im Schacht oder besser: auf dem Konto. Dann heißt es sparen, auch beim Essen. So geht es vielen, wie ich von meiner ehrenamtlichen Tätigkeit bei den Suppentanten weiß. 

Das Menschen hungern, ist in Deutschland ein weit verbreitetes Problem! Jeder, der die Augen aufmacht - ob auf Bahnhöfen oder vor den Tafeln, wo sich immer längere Schlangen bilden - kann das sehen. Die Zahl derer, die vom Job Center abhängig sind und sich aus ihrer Lage nicht mehr befreien können, wächst stetig. Das zementiert die Armut!

Es könnte allerdings auch sein, dass bei der Neugestaltung des Bürgergeldes genauer hingeschaut wird. Dass je nach individuellem Hintergrund gezielter als bisher „gefördert und gefordert“ wird?

Wasielewski: Da mache ich mir ehrlich gesagt überhaupt gar keine Hoffnungen. Die letzten 20 Jahre haben gezeigt: Ob Hartz-IV-Empfänger oder Bürgergeldempfänger - alle werden in einen Topf geworfen. Alle gelten in der politischen Wahrnehmung als Schmarotzer. Die kommende Regierung redet vom Wohlstand und lässt unsereins hemmungslos im Stich.

Hemmungslos?

Wasielewski: Ja, genau so sehe ich das. Für die Rüstungsindustrie scheint ja genug Geld da zu sein. Wir können diesen Menschen nicht helfen, weil die Mittel fehlen… Die seit Langem wiederkehrende Leier ist nun endgültig entlarvt! Das Problem ist nicht, dass man uns nicht helfen kann. Man will es nicht.