Bewegter Donnerstag in Kempten: Zwei Autorinnen im Dialog über Krieg, Natur und die Frage, was bleibt, wenn alles verschwindet.
Kempten – Unter dem Titel „Schreiben, wenn alles verschwindet“ begegneten sich beim Bewegten Donnerstag mit Kateryna Mishchenko und Eva von Redecker zwei außergewöhnliche Autorinnen. Unter der Moderation der Kulturjournalistin und Literaturkritikerin Lara Sielmann gaben sie Einblick in ihre schriftstellerische Arbeit und philosophierten über die Themen Freiheit, Verlust, Hoffnung und Zeit. Geprägt war ihr Gespräch außerdem von der gemeinsamen Leidenschaft für Nature Writing. Musikalisch umrahmt wurde der Abend von ukrainischen und deutschen Liedern des Chors „Kalyna“.
Am Anfang stand das Projekt „Weiter Schreiben“
Ihr Austausch entsprang dem Projekt „Weiter Schreiben“. In literarischen Tandems tauschen sich hier Autoren und Autorinnen, die aus Kriegs- oder Krisengebieten geflüchtet sind, mit ihren deutschsprachigen Kollegen über ihre Werke und das Leben aus. Auf diesem Weg wird ihnen die Möglichkeit geboten, sowohl zu schreiben und zu publizieren als auch weiter gelesen und gesehen zu werden.
Kateryna Mishchenko kam 2022 nach Deutschland. Sie ist Essayistin, Übersetzerin und Mitbegründerin des Verlags Medusa in Kyjiw. Ihre Essays sind in Zeitschriften, Anthologien und in ihren Büchern „Ukrainische Nacht“ und „Aus dem Nebel des Krieges“ erschienen. Eva von Redecker ist Philosophin und Autorin. In ihrem jüngsten Buch „Bleibefreiheit“ nimmt sie sich dem Freiheitsbegriff in Bezug auf Zeit und Raum an.
Freiheit – zwei unterschiedliche Perspektiven
Freiheit – für viele bedeutet das, sich bewegen zu können, nicht an einem Ort bleiben zu müssen. Von Redecker las hierzu einen Text, in dem es um das Fernbleiben der Schwalben geht. Sie kommen nicht mehr an ihren gewohnten Ort zurück, sondern suchen sich einen besseren Platz. So handeln auch die Menschen. Ist eine Gegend nicht mehr bewohnbar, gehen sie woanders hin. Doch das ist keine Freiheit – es ist eine Notlösung auf Zeit. Freiheit hängt für die Autorin vom Fortbestand einer lebendigen und bewohnbaren Welt ab. Einer Welt, die maximal lebendig ist, mit möglichst viel Biodiversität, um darin eine menschliche und erfüllte Zeit verbringen zu können. „Warum stört uns nicht, dass die Vögel wegbleiben, warum stört uns aber die Einführung eines Tempolimits?“, regte von Redecker zum Nachdenken an. Wir seien alle selbst Natur und betreiben dennoch kontinuierlich Selbstzerstörung. Ein großes Gesellschaftliches Umdenken sei von Nöten.
Kateryna Mishchenko dagegen beschäftigte sich mit der Frage, was Freiheit für die Menschen in der Ukraine bedeutet. Sie leben dort sehr isoliert und sind sich selbst ausgeliefert. „In der Ukraine ist man in einem freien Fall. Niemand interessiert sich für dich“, erzählte die Autorin. Doch genau in dieser Isolation sieht sie einen Handlungsraum, der ebenfalls Freiheit biete – es sei zwar eine seltsame und verzweifelte äußere Freiheit, die aber dennoch den Raum biete, etwas zu gestalten und nicht aufzugeben, sondern weiterzumachen – trotz aller Müdigkeit und Erschöpfung.
Verantwortung für den Lebensraum Erde
In ihrem Essay „Zeitnegativ“ geht Mishchenko auf den Krieg in Verbindung mit Heilung, Hoffnung und Freiheit ein. Der Text heißt: „Erste Gedanken an Heilung“. Unter anderem erzählt sie darin von der Bombardierung des Kachowka-Stausees und der damit verbundenen Zerstörung des Staudamms. Die ökologischen Folgen sind noch nicht vollständig absehbar, aber es wird von einer „giftigen Zeitbombe“ aus Schwermetallen berichtet. Dennoch erobert sich die Natur das Gebiet zurück und ein Wald wächst nun auf dem Areal. Für die Autorin ist dieser Wald ein Bild für Heilung und Hoffnung – auf die Chance, dass etwas ganz anderes geschehen kann, als was man erwartet. „Zeitnegativ“ bedeutet aber gleichzeitig auch, immer weniger Zeit für diese Hoffnung zu haben.
Es waren große und viele Kontexte, über die sich die beiden Autorinnen an diesem Abend austauschten: Freiheitsverständnis, Krieg, zerstörerische Mächte, Erinnerung, Verlust und Hoffnung. Zusammenfassend kann man jedoch sagen, dass an diesem Abend ein großer Denkraum darüber geschaffen wurde, was es bedeutet, ein lebender Organismus zu sein und einen geteilten Raum zu haben, der diese Erde ist. Moderatorin Lara Sielmann sagte dazu: „Es waren verschiedene Assoziationsräume, die heute aufgemacht wurden und das ist schön, weil diese auch bei den Zuhörenden eigene Assoziationen hervorrufen können.“ Dennoch war eine Botschaft ganz klar: Die Verantwortung, die wir als „denkende“ Spezies für diese Erde haben und wie verantwortungslos wir damit für uns und auch für unsere nachfolgenden Generationen umgehen. Vielleicht liegt ein erster Schritt darin, bei sich selbst im Kleinen zu schauen, was man dagegen unternehmen kann – egal wie mächtig man ist. Abschließende Worte fand Eva von Redecker in einem ihrer Texte: „Eine lebendig erhaltene Natur hieß alle Zeit der Welt.“
Claudia Mair
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