Von Mobbingopfern zu Narzisstenmagneten: Der erschreckende Kreislauf
Die Jacke zerrissen, das Gesicht beschmiert
Als Kind wurde sie gemobbt und fühlte sich wertlos. Heute sitzt sie mir gegenüber und fragt: „Ist das der Grund, warum ich immer wieder Männer anziehe, die mich kleinmachen?“
Im weiteren Gespräch kommt zögerlich ein weiteres Thema zur Sprache: ihr zehnjähriger Sohn. Auch er wird ausgegrenzt, beschimpft, verachtet. Ein stilles, sensibles Kind, das auf leise Weise um Halt bittet.
Sie erzählt von einer Szene, die ihr wieder einfällt. Wie er eines Tages weinend vor ihr stand, mit beschmutzter Kleidung, gebrochener Stimme, tränennassen Augen, und wie sie, ohne nachzudenken, sagte: „Reiß dich zusammen. Ich musste mir früher auch alles gefallen lassen.“
In diesem Moment, in meiner Praxis, wird ihr klar: Sie hat genau das weitergegeben, was sie selbst so tief verletzt hat. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus unbewusster Wiederholung. Sie wollte stark sein, so wie es von ihr erwartet wurde.
Während sie das ausspricht, beginnt sie zu begreifen, dass sie, solange sie diese alten Wunden verdrängt, auch für ihren Sohn keine sichere Zuflucht sein kann.
Und da ist noch etwas. Die Beziehung, in der sie lebt. Ein Mann, der sie kontrolliert, kleinmacht, manipuliert. Ein Narzisst, wie sie jetzt erkennt. Sie hat gelernt, Schmerz zu schlucken, Grenzen zu ignorieren, sich selbst zu übergehen. Und sie hat geglaubt, das sei Liebe.
Sie hatte schlechte Vorbilder und war nun selbst eines für ihren Sohn. Pass dich an. Ertrage es.
Sie erkennt: Nur wenn sie selbst ihre Verletzungen heilt, kann sie wirklich für ihren Sohn da sein. Nur dann kann sie ihm etwas geben, was sie selbst nie bekommen hat: Verständnis, Schutz, liebevolle Stärke.
Dieser Moment war kein Zusammenbruch. Es war ein Aufbruch.
Mein Kind wird gemobbt. Ein Einzelfall?
Es beginnt harmlos: ein abschätziger Blick auf dem Pausenhof, ein gemeiner Spruch in der WhatsApp-Gruppe, ein ausgelachtes Referat. Doch was wie ein „normaler Teil des Aufwachsens“ verharmlost wird, hinterlässt Spuren, die sich tief ins Selbstwertgefühl graben.
Statt Mobbing als das zu sehen, was es ist: ein kollektives, strukturelles Problem, wird die Verantwortung auf das einzelne Kind abgewälzt.
„Stell dich nicht so an.“
„Du musst eben stärker werden.“
„Schlag zurück, dann hören sie auf.“
Diese gut gemeinten Ratschläge führen nicht zur Heilung, sondern zur inneren Spaltung. Kinder, die lernen, Gefühle zu unterdrücken, um zu funktionieren, verlieren den Zugang zu ihrer Intuition.
Oder sie passen sich so sehr an, dass sie irgendwann nicht mehr wissen, wer sie eigentlich sind.
Mobbing endet nicht, wenn das Opfer „hart“ wird. Es endet, wenn wir als Gesellschaft lernen hinzusehen, und Verantwortung zu übernehmen. Für die Strukturen. Für die Wunden. Und vor allem: füreinander.
Gemobbte Kinder ziehen später narzisstische Partner an
Wer in der Kindheit erfahren hat, dass seine persönlichen Grenzen nicht respektiert werden, entwickelt eine tief verwurzelte Überzeugung: Liebe ist mit Schmerz verbunden. Solche Erfahrungen prägen das Selbstbild und die Erwartungen an zwischenmenschliche Beziehungen nachhaltig. Betroffene lernen, sich anzupassen, um akzeptiert zu werden, und empfinden es als normal, verletzt zu werden und darüber zu schweigen. Diese unbewusste Konditionierung begleitet viele ins Erwachsenenalter und beeinflusst die Partnerwahl. In Beziehungen wiederholt sich dieses Muster. Menschen, die in ihrer Kindheit gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse hintanzustellen, geraten an Partner, die diese Dynamik ausnutzen.
Besonders narzisstische Persönlichkeiten erkennen instinktiv jene Menschen, die sich selbst zurücknehmen und ihre eigenen Grenzen nicht verteidigen. Sie suchen keine gleichwertigen Partnerschaften, sondern gezielt nach Personen, die bereit sind, sich anzupassen und ihre eigenen Wünsche zugunsten des anderen aufzugeben. Diese Konstellation kann für Betroffene zur Falle werden: Die manipulative und kontrollierende Art eines narzisstischen Partners wird als vermeintliche Normalität oder gar als Ausdruck von Liebe wahrgenommen. So setzt sich ein Kreislauf fort, der ohne bewusste Reflexion schwer zu durchbrechen ist.
Chris Oeuvray ist eine erfahrene psychologische Beraterin und Autorin mit Expertise in Narzissmus und Mobbing. Sie ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen ihre persönliche Auffassung auf Basis ihrer individuellen Expertise dar.
Wenn Eltern selbst Mobbing-Opfer waren
Eltern, die in ihrer eigenen Kindheit Mobbing erfahren haben, tragen selbst unverarbeitete Wunden mit sich, die unbewusst ihr Verhalten gegenüber ihren eigenen Kindern prägen. Ein Vater, der seinem Sohn mit einem „Reiß dich zusammen“ begegnet, drückt damit nicht Kälte aus, sondern die Überforderung, die aus seiner eigenen Vergangenheit resultiert. Diese Worte sind ein Echo seiner Kindheitserfahrung: Er hat gelernt, dass niemand ihn auffängt und dass Schwäche keinen Platz hat. Ebenso wiederholt eine Mutter mit Sätzen wie „Du bist selbst schuld!“ unbewusst das, was sie selbst als Kind gehört hat. Solche Reaktionen sind weniger Ausdruck von Härte als vielmehr von Schutzmechanismen, die einst dazu dienten, eigene Verletzungen zu überleben.
Wenn Kinder verletzt oder ausgegrenzt nach Hause kommen, werden bei diesen Eltern alte Muster aktiviert. Nicht aus Absicht oder Gleichgültigkeit, sondern weil sie es nie anders gelernt haben. Das Verhalten ist ein Automatismus: Ein Schutzprogramm aus der Vergangenheit wird reaktiviert. Doch was einst als Überlebensstrategie diente, kann nun unbeabsichtigt die nächste Generation verletzen. Die Herausforderung liegt darin, diese Muster zu erkennen und bewusst zu durchbrechen, um den eigenen Kindern das zu geben, was man selbst vielleicht nicht erhalten hat, nämlich Verständnis und emotionale Unterstützung.
Eltern unterstützen Kinder, wenn sie ihre eigenen Traumata bewältigen
Der erste Schritt, um Kinder wirklich zu unterstützen, beginnt mit der ehrlichen Reflexion der eigenen Erfahrungen. Es erfordert Mut, sich einzugestehen: „Auch ich wurde damals nicht gesehen.“ Doch genau diese Einsicht kann alles verändern. Wenn Eltern sich mit ihren eigenen Verletzungen auseinandersetzen, schaffen sie einen Raum für authentische Verbindung. Dabei geht es nicht um Perfektion, sondern um Ehrlichkeit. Kinder brauchen keine makellosen Eltern. Sie brauchen Erwachsene, die präsent sind und bereit, zuzuhören, auch dann, wenn sie keine perfekten Antworten parat haben.
Es ist heilsam, wenn Eltern die Größe zeigen können zu sagen: „Es tut mir leid. Ich wusste es damals nicht besser. Doch ich will es jetzt lernen.“Diese Haltung vermittelt dem Kind nicht nur Liebe und Sicherheit, sondern auch das Wissen, dass Wachstum und Veränderung immer möglich sind. Diese Form von Selbstreflexion und Offenheit ist kraftvoller als jeder Erziehungsratgeber. Sie ermöglicht es Kindern, sich gesehen und verstanden zu fühlen. Eine Grundlage für gesunde emotionale Entwicklung. Indem Eltern ihre eigenen Wunden heilen, schenken sie ihren Kindern die Freiheit, eigene Wege zu gehen, ohne die Last ungelöster familiärer Muster tragen zu müssen.
Neuer Umgang mit Mobbing heilt ganze Familiengenerationen
Wenn ein Kind die Erfahrung macht: Ich werde gesehen. Ich bin nicht schuld. Ich darf so sein, wie ich bin, dann geschieht etwas Tiefgreifendes. Die Ohnmacht, die mit Mobbing einhergeht, weicht einem Gefühl von Vertrauen. Die lähmende Angst wird kleiner, und anstelle des Wunsches, sich zu verstecken, wächst der Mut, sich zu zeigen. Diese innere Veränderung bleibt nicht auf das betroffene Kind beschränkt. Sie entfaltet eine Wirkung, die weit über das Individuum hinausgeht.
Eltern, die sich mit den Verletzungen ihrer Kinder auseinandersetzen und gleichzeitig ihre eigenen ungetrösteten Anteile erkennen und heilen, schaffen eine neue Grundlage für zwischenmenschliche Beziehungen innerhalb der Familie. Es ist ein Prozess, der im Kleinen beginnt: ein ehrliches Gespräch, das Zuhören ohne Urteil oder ein neuer Blick auf alte Wunden. Solche scheinbar kleinen Schritte können einen generationsübergreifenden Kreislauf von Schmerz und Missverständnissen durchbrechen. Die Heilung eines Kindes wird so zur Heilung einer ganzen Familie. Sie schenkt nicht nur dem Kind selbst Stärke und Selbstvertrauen, sondern auch den Eltern die Möglichkeit, ihre eigene Vergangenheit in einem neuen Licht zu betrachten und Frieden mit ihr zu schließen. Dieser neue Umgang mit Mobbing schafft Raum für Verständnis und Mitgefühl, und kann damit Familiengenerationen nachhaltig verändern.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.