Ein Fall aus Nordrhein-Westfalen erschüttert: Ein Grundschüler wird auf dem Pausenhof so heftig attackiert, dass er ärztlich versorgt werden muss. Die Täter: andere Kinder – kaum zehn Jahre alt.
Die Empörung ist groß, die Verunsicherung ebenso. Wie kann es sein, dass Kinder in diesem Alter bereits gewaltsam aufeinander losgehen? Und was sagt das über unsere Gesellschaft aus – nicht nur mit Blick auf Kinder, sondern auch auf das, was ihnen vorgelebt wird?
Chris Oeuvray ist eine erfahrene psychologische Beraterin und Autorin mit Expertise in Narzissmus und Mobbing. Sie ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen ihre persönliche Auffassung auf Basis ihrer individuellen Expertise dar.
Was hier passiert ist, ist keine Lappalie
Wenn Kinder zu Tätern werden, braucht es eine klare Haltung: Gewalt darf niemals verharmlost oder relativiert werden. Auch wenn das Alter der Beteiligten viele erschüttert – das Opfer leidet real. Körperlich, seelisch, langfristig.
Die erste Verantwortung liegt deshalb darin, das Leid der Betroffenen klar zu benennen – und zu schützen.
Wichtig: Wenn wir verhindern wollen, dass aus gewaltbereiten Kindern gewalttätige Jugendliche und Erwachsene werden, reicht es nicht, nur mit Strafen zu reagieren. Wir müssen die Ursachen verstehen – nicht, um zu entschuldigen, sondern um präventiv zu handeln.
Gewalt beginnt nicht auf dem Pausenhof – sondern viel früher
Kindliche Aggression entsteht selten aus dem Nichts. Sie ist Ausdruck innerer Not – ausgelöst durch Überforderung, emotionale Vernachlässigung, Stress oder das Erleben von Gewalt im eigenen Umfeld.
Gleichzeitig beobachten Fachleute mit Sorge:
Auch bei Jugendlichen und Erwachsenen nimmt die Gewaltbereitschaft zu. Ob im öffentlichen Raum, in Schulen, Familien oder Onlineforen – der Ton wird rauer, die Hemmschwelle sinkt. Wir erleben nicht nur Einzelfälle. Sondern ein strukturelles Warnsignal.
Ursachen, die wir nicht länger ignorieren dürfen
Emotionale Verwahrlosung
Kinder, die sich permanent ohnmächtig, unsicher oder übersehen fühlen, entwickeln kompensierende Verhaltensweisen. Wer nie gelernt hat, Wut oder Kränkung zu regulieren, schlägt schneller zu – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.
Vorbilder, die selbst keine Grenzen kennen
Wo in Familien, Medien oder Gesellschaft Gewalt als „normal“ vermittelt wird – sei es durch Beschämung, Drohung oder emotionale Kälte – übernehmen Kinder diese Muster. Nicht aus Bosheit, sondern aus Prägung.
Überforderte Systeme
Schulen, Kitas, Jugendhilfe: Die Menschen dort geben ihr Bestes – und stoßen trotzdem an Grenzen. Fehlende Kapazitäten verhindern frühe Interventionen, die Eskalationen verhindern könnten.
Digital verstärkte Entgrenzung
Gewalt findet heute nicht nur auf dem Schulhof statt. Cybermobbing: gezielte Bloßstellungen haben dramatische Folgen – und sind schwer zu kontrollieren.
Gesellschaftlicher Druck auf Eltern und Kinder
Zwischen Leistungsdruck, wirtschaftlicher Unsicherheit und sozialer Isolation fehlt die Zeit – für echte Beziehung, für emotionale Begleitung, für gemeinsames Durchatmen.
Ein Plädoyer für differenziertes Hinschauen
Wir müssen die Täter verstehen – UND wir dürfen sie nicht verharmlosen.
Kindliche Gewalt ist nicht harmlos. Sie ist auch kein „normaler Entwicklungsschritt“, den man einfach aussitzen kann. Sie ist ein Hinweis auf eine tieferliegende Störung im sozialen oder emotionalen Gefüge.
Und genau deshalb braucht es eine klare Haltung – nicht gegen die Kinder, sondern für eine Gesellschaft, die hinschaut, schützt und handelt.
Was wir jetzt tun können – konkret, nachhaltig, gemeinsam
Opfer konsequent schützen
Gewaltbetroffene – ob Kinder oder Jugendliche – brauchen einen geschützten Raum, in dem sie ernst genommen, begleitet und gestärkt werden. Das ist keine pädagogische Kür, sondern ein Menschenrecht.
Gewalt nicht bagatellisieren – auch bei Kindern nicht
Klar benannte Grenzen sind notwendig. „Das darfst du nicht“ ist kein Liebesentzug – sondern ein Schutzrahmen. Kinder brauchen Orientierung, kein Wegschauen.
Ursachen identifizieren und intervenieren
Statt zu fragen: „Was stimmt nicht mit dem Kind?“ sollten wir fragen: „Was ist dem Kind passiert?“ Frühzeitige Gespräche, systemische Diagnostik und niederschwellige Angebote für Familien sind der Schlüssel.
Pädagogische Fachkräfte stärken
Lehrpersonen und Erziehende brauchen nicht nur mehr Personal – sondern auch Handlungssicherheit, Supervision und Rückhalt, um mit herausforderndem Verhalten professionell umgehen zu können.
Gesellschaftlich Verantwortung übernehmen
Gewaltprävention ist kein Schulprojekt – sondern ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag. Dazu gehören emotionale Bildung, ein ehrlicher Umgang mit Konflikten, Vorbilder für respektvollen Umgang und Räume für Dialog.
Was wir nicht vergessen dürfen
Jede Gewalttat hat eine Geschichte – jedoch kein Recht auf Fortsetzung.
Wenn wir Kinder schützen wollen, müssen wir alle Seiten sehen: Die, die verletzt wurden. Die, die verletzen. Und die Strukturen, die beides möglich machen. Nicht alles ist erklärbar – aber vieles ist veränderbar.
Erleben Sie ähnliche Herausforderungen im Schul- oder Familienalltag?