Neurologe klärt auf: Fluchen ist die Ausnahme – Die unterschätzte Realität von Tourette
Symptome des Tourette-Syndroms
Das Tourette-Syndrom ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die durch das Vorhandensein von motorischen und phonischen Tics gekennzeichnet ist. Diese Tics treten in der Regel häufiger in der Kindheit auf, der Schweregrad nimmt im Erwachsenenalter häufig ab.
Zum Tourette-Syndrom gehört mindestens ein Sound-Tic – das können in Ausnahmefällen Kraftausdrücke sein, häufiger sind aber einfache Geräusche wie Schniefen, Räuspern oder Husten. Hinzukommen in jedem Fall motorische Tics, die von kleinen Zuckungen im Gesicht bis zu groben, unwillkürlichen Bewegungen der Arme oder Beine reichen – hier kommt also auch eine beachtliche Unfallgefahr ins Spiel. Vor den Tics tritt häufig ein Unbehagen oder eine Anspannung auf – man kann das vielleicht mit einem Nieser vergleichen.
Über den Neurologen Mimoun Azizi
Der Facharzt für Neurologie Dr. med. Mimoun Azizi, M.A., ist seit 1. April 2025 geschäftsführender Chefarzt und Leiter des Zentrums für Geriatrie und Neurogeriatrie im Klinikverbund Südwest (KVSW). Darüber hinaus ist er Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und besitzt u.a. Zusatzqualifikationen in der Notfallmedizin, Geriatrie und Palliativmedizin. Der Autor verschiedener Fachbücher und -artikel besitzt zudem einen Magister der Politikwissenschaften und Soziologie sowie einen Master der Philosophie.
Spitze des Eisbergs
Für viele Menschen sind Tics nur die Spitze des Eisbergs – mindestens 20 bis 30 Prozent, eventuell sogar bis 55 Prozent der Betroffenen leiden zusätzlich an ADHS und einer Zwangsstörung.
Zusätzlich gibt es eine Vielzahl anderer Probleme, die mit Tourette in Verbindung gebracht werden können, wie zum Beispiel Angst-, Stimmungs-, Lern- oder Verhaltensstörungen.
Woher kommt Tourette?
Die genauen Ursachen sind noch nicht abschließend geklärt. Studien zeigen jedoch, dass mehrere Faktoren zusammenspielen – biologische, psychische und soziale.
Kinder mit besonders starken Tics haben auch später oft schwerere Symptome. Wer in der Kindheit wegen seiner Tics verspottet wurde oder zusätzlich unter einer Zwangsstörung litt, hat ebenfalls ein höheres Risiko für stärkere Ausprägungen im Erwachsenenalter. Stress und depressive Symptome können das zusätzlich beeinflussen.
Auch das Gehirn spielt eine Rolle: Ein kleinerer Nucleus caudatus – ein Bereich, der Bewegungen steuert – wurde bei Kindern beobachtet, die später besonders starke Tics entwickelten. Auch eine schlechtere Feinmotorik kann ein Hinweis sein. Tourette entsteht also nicht durch eine einzige Ursache, sondern durch das Zusammenspiel von Gehirn, Psyche und Umfeld.
Wie wird Tourette behandelt?
Die Behandlung von Tourette basiert auf zwei Säulen: Medikamenten und Verhaltenstherapie. Medikamente wirken meist auf das Dopamin- oder Noradrenalin-System im Gehirn. Am wirksamsten sind sogenannte typische Neuroleptika wie Haloperidol, die Tics um bis zu 60 Prozent reduzieren können – wegen starker Nebenwirkungen werden sie aber nur in schweren Fällen eingesetzt.
Atypische Neuroleptika wie Risperidon haben etwas weniger Wirkung (40 bis 50 Prozent), dafür aber meist weniger starke Nebenwirkungen. Als erste Wahl gelten Medikamente wie Clonidin oder Guanfacin, sogenannte Alpha-2-Rezeptor-Agonisten. Sie reduzieren Tics um etwa 35Prozent und haben mildere Nebenwirkungen, wie zum Beispiel Müdigkeit oder Schlafprobleme.
Noch wichtiger als Medikamente sind oft kognitive Verhaltenstherapien. Besonders wirksam ist die sogenannte CBIT (Comprehensive Behavioral Intervention for Tics). Diese Therapie hilft Betroffenen, ihre Tics bewusster wahrzunehmen, gezielt gegenzusteuern und Auslöser zu erkennen. Sie kann die Tic-Häufigkeit um rund 30 Prozent senken. Ein weiteres Verfahren ist die Exposition mit Reaktionsverhinderung (EPR). Dabei lernen Betroffene, das unangenehme Gefühl vor einem Tic auszuhalten, ohne dem Drang nachzugeben.
Trotz guter Wirksamkeit sind viele dieser Therapien noch nicht weit verbreitet – besonders CBIT wird bisher nur von wenigen Fachkräften angeboten.
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