"Mama, Papa, macht keinen Scheiß – es reicht, wenn der Tumor mein Leben zerstört"

Als Valentina Peter vier Jahre alt war, hatte sie eine große Leidenschaft: die Marionetten-Oper. Der erste Besuch, gemeinsam mit ihrer Mutter Renate, hatte ihr so gut gefallen, dass sie in den folgenden drei Jahren jede Oper fünfmal sehen musste. Jedes Stück konnte sie mitsingen. 

"Als sie dann sieben oder acht Jahre alt war, wollte sie auch mal in die Menschenoper, so nannte sie das", sagt Vater Kurt Peter im Gespräch mit FOCUS online. Mutter Renate willigte schließlich ein – unter einer Bedingung: "Du kommst nur mit, wenn du nicht mitsingst. Mitsingen ist verboten!" Valentina sei einverstanden gewesen. "Also gut, ich reiße mich zusammen."

Valentina erkrankte im Alter von 12 Jahren an aggressivem Knochenkrebs

Kurt Peter lacht. Es gibt viele Augenblicke wie diese, an die er gern zurückdenkt. Da waren die gemeinsamen Monopoly-Abende daheim in Wangen im Allgäu, der Gedichtwettbewerb beim Radiosender "BR4", den Valentina gewann. Ihr Gedicht über einen Vampir vertonte sogar ein Komponist. Besuche im Schwimmbad. Das letzte gemeinsame Weihnachtsfest.

Diese Erinnerungen sind die andere Seite der Münze, sagt Peter. "Die eine Seite ist die Katastrophe", sagt er. "Wenn Sie sie umdrehen, ist die Frage: Was war noch? Und das war bei uns eine wunderbare, intensive, kostbare Zeit."

Mitte April 2015 hatten Ärzte bei Valentina einen sehr aggressiven Knochentumor entdeckt. Diese Krebsart ist bei Kindern extrem selten. 2,7 von einer Million Jungen und Mädchen erkranken daran. Die Wahrscheinlichkeit sei so hoch wie bei einem Fünfer im Lotto – "nur mit falschem Vorzeichen", sagt Peter. Die Wahrscheinlichkeit, dass Valentina die nächsten fünf Jahre überleben sollte, lag bei 20 Prozent. 

"Ihr Idioten, warum habt ihr das nicht früher gemerkt?", sagt Vater über erste Symptome

In den Monaten vor der Diagnose klagte das zwölfjährige Mädchen öfter über Gelenkschmerzen in der Hüfte. "Man könnte es auch schärfer formulieren und fragen: Ihr Idioten, warum habt ihr das nicht früher gemerkt?", fragt Peter rhetorisch. Die Schmerzen waren allerdings unregelmäßig gewesen und zwischenzeitlich verschwunden. Noch dazu kam Valentina gerade in die Pubertät und wuchs. Es hätten auch einfach nur Wachstumsschmerzen sein können.

Als sich die Beschwerden verschlimmerten, suchten die Peters einen Arzt auf. Er erschrak über Valentinas Blut- und Entzündungswerte, ordnete ein Notfall-MRT an, überwies das Mädchen schließlich an die Uniklinik Ulm. Dort erfolgte dann der schlimme Befund.

"Die Diagnose ist brutal, denn sie bedeutet: Dein Kind ist todkrank. Das erwartet man ja eigentlich nicht", sagt Peter.

Es folgten Chemotherapie, und, als Valentinas Lebenssysteme fast kapitulieren, eine Immunkörper-Transfusion. Der Tumor hörte schließlich auf zu wachsen, doch kurz darauf änderte der Tumor seinen genetischen Code und wandelte sich in einen unbekannten Gewebetumor um. Die Chemo sprach nicht mehr an – und musste nach einem halben Jahr abgebrochen werden. Valentinas Überlebenswahrscheinlichkeit sank auf ein Prozent. 

Valentina kämpfte – und forderte von ihrer Familie dieselbe Stärke

Doch sie kämpfte weiter. Sie war munter, fröhlich, genoss jeden Moment Normalität, der sich ihr bot, berichtet Peter. Die Besuche zu Hause, das Spielen mit Freundinnen, das Teilnehmen am Schulunterricht – wenn auch nur für zwei Stunden am Tag.

Auf Bildern aus dieser schweren Zeit lächelt Valentina mit kahlem Kopf. Herzlich, ehrlich, fast schon trotzig. 

Mitleid, "das Gegenteil von Normalität", wollte die Zwölfjährige nicht. "Valentina fand das zum Kotzen", sagt Peter. Einmal hatte die Familie sie im Rollstuhl durch die Stadt geschoben und dabei viele Bekannte getroffen, die sie bemitleideten und bedauerten. "Dann hat sie gesagt: Mama, ich fahre nie wieder mit dem Rollstuhl durch die Stadt."

"Es reicht, wenn der Tumor ein Leben zerstört – nämlich meins"

Auch von ihrer Familie erwartete Valentina die Stärke, die sie selbst unermüdlich unter Beweis stellte. Auf der Kinderstation der Klinik hatte sie das Zusammenbrechen von Angehörigen krebskranker Kinder beobachtet, das Auseinanderbrechen von Familien. 

"Und dann hat sie gesagt: Seht ihr, was da draußen läuft? Eins sage ich euch: Mama, Papa – so einen Scheiß macht ihr mir nicht. Es reicht, wenn der Tumor ein Leben zerstört – nämlich meins", berichtet Peter, immer noch beeindruckt von den unerschrockenen Worten seiner Tochter.

Nach dem letzten Weihnachtsfest zu fünft – "es war das fröhlichste, was wir je hatten" –, verschlechterte sich Valentinas Zustand. Es begann die palliative Hochdosisbestrahlung, um den Tumor wenigstens im Zaum zu halten.

Im Februar 2016 bereiteten die Ärzte sie auf ein baldiges Ende vor. Solange es ihre Kraft zuließ, verbrachte das Mädchen seine Zeit mit Freunden und Familie, besuchte seinen Onkel am Lago Maggiore, ging schwimmen und nahm an Pfadfinder-Treffen teil.

Dann musste Valentina, der Krebs hatte sich mittlerweile auf die Lunge ausgebreitet, wieder ins Krankenhaus. Zuhause konnte sie das Kinderpalliativteam zu diesem Zeitpunkt nicht mehr adäquat versorgen; in der Klinik fühlte sie sich sicherer.

Am Abend vor ihrem Tod spielte sie mit ihren Eltern im Krankenhausbett noch lange Karten. Irgendwann habe Peter, erschöpft vom langen Tag, die Partie beendet. "Immer muss ich so früh schlafen gehen", hatte die mittlerweile 13-Jährige gesagt.

Am Tag darauf, gegen neun Uhr abends, starb Valentina. Es war der 9. April 2016.

Nach Valentinas Tod finden Eltern ihren Auftrag – und gründen eine Stiftung

Trauer, Unverständnis, Verzweiflung. Und doch inmitten dieses Ausnahmezustands wissen Kurt und Renate Peter: Sie haben einen Auftrag. Macht keinen Scheiß, hatte Valentina gesagt. 

Also machten die Peters etwas Sinnvolles – und gründeten gemeinsam mit der Bürgerstiftung Kreis Ravensburg noch im Juni 2016 die Stiftung Valentina

Die Idee kam ihnen durch den Leiter des Palliativteams für Kinder und Jugendliche an der Uniklinik Ulm, Daniel Steinbach. Bis 2015 hatten alle todkranken Kinder in der Umgebung im Krankenhaus sterben müssen, weil die ambulante Versorgung zu teuer war. Ein Zustand, den der Mediziner durch die Gründung eines ambulanten Kinderpalliativteams ändern wollte. "Professor Steinbach sagte: 'Es reicht, wir bringen die Kinder jetzt nach Hause'", berichtet Peter. 

Für seine Frau und ihn war es Fügung, dass Steinbach dieses Projekt vorantrieb, just in dem Moment, als Valentina starb – in der Klinik. "Da haben wir gesagt: Das ist unser Auftrag."

Kinderpalliativteam Pallikjur unterstützt bei der Betreuung der todkranken Kinder zu Hause

Seitdem unterstützt die Stiftung Valentina die Uniklinik Ulm dabei, das ambulante Palliativangebot für Kinder namens PalliKjur mit Spenden zu finanzieren – mit dem Ziel, todkranken Mädchen und Jungen die Behandlung und Betreuung auf den letzten Metern ihres kurzen Lebensweges daheim im familiären Umfeld zu ermöglichen. 

"Alle Kinder wollen nur eins: nach Hause. Umso mehr, wenn’s ums Sterben geht", sagt Peter. Im Grunde sei es ein "Skandal", dass dies bis 2015 nicht möglich gewesen sei. "Es sterben rund 3000 Kinder jedes Jahr in Deutschland, bei den Erwachsenen sind es eine Million. Aber die 3000 Kinder dürfen nicht nach Hause, weil es zu teuer ist."

Das spezialisierte Team aus Onkologen, Kinderärzten und Palliativärzten sowie Pflegern besucht die Kinder und Angehörigen zuhause, baut dort eine Art Intensivstation auf und schult die Eltern medizinisch. Unter einer Mobilfunknummer können die Mütter und Väter das Team bei Fragen um jede Uhrzeit erreichen. In Notfällen macht sich das Team sofort auf den Weg.

Das Palliativteam braucht jedes Jahr 250.000 Euro

Damit das Pallikjur-Team existieren kann, benötigt es jährlich 250.000 Euro. Diese sammelt die Stiftung Valentina ein. "Das ist schon heftig, finde ich. Das müssen wir alles ein Jahr vorher mit Kleinspenden einsammeln", sagt Peter. Langfristige Finanzierungszusagen gebe es noch nicht.

Dank der Stiftung Valentina konnte das Pallikjur-Team bislang 352 todkranke Kinder daheim betreuen, mehr als 7200 Hausbesuche hat es absolviert.

Licht in die dunkelsten Stunden bringen, aus der Trauer heraus etwas Positives schaffen – dass das möglich ist, zeigen Kurt und Renate Peter mit ihrer Stiftung. "Es ist normal, dass die Leute um sich selbst kreisen: 'Warum ich? Warum mein Kind? Was habe ich falsch gemacht?' Das bringt nichts", sagt Peter. 

Und an den Worten des Philosophen Martin Buber orientiert: "Wenn ich den Blick vom Ich zum Du hinwenden kann, wenn ich mich fragen kann, welcher Auftrag für andere liegt in dieser Katastrophe für mich – dann ist das der Schlüssel, um dort rauszukommen."

Stiftung Valentina

Die Stiftung Valentina setzt sich dafür ein, sterbenskranken Kindern bis zuletzt ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Sie erhalten eine intensivmedizinische und palliative Betreuung in ihrem Zuhause, sodass sie möglichst viel Zeit im Kreis ihrer Familie verbringen können. Die "Tribute to Bambi"-Stiftung unterstützt das Projekt finanziell. Sie übernimmt anteilig die Kosten für eine ambulante Teilzeit-Pflegefachkraft.

Die "Tribute to Bambi"-Stiftung gehört wie FOCUS online zu Hubert Burda Media.