„Keine Stellungen verloren“: Lagebericht verdeutlicht die Verbissenheit der Truppen Putins

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Mehrere Angriffe pro Tag, mehrere Niederlagen pro Tag. Russland kämpft weiter um jeden Meter Ukraine gegen wieder erstarkte und alternde Verteidiger.

Charkiw – „Die westlichen Länder wollen Russland bestrafen, und sie wollen dessen Beispiel nutzen, um jeden einzuschüchtern, der eine unabhängige Außenpolitik betreibt“, behauptete Sergej Lawrow. Der Außenminister Russlands warnte die Welt in Moskau im Rahmen des außenpolitischen Forums „Primakow-Lesungen“ vor den, seiner Meinung nach, legitimen Bestrebungen seines Landes, während Russlands Invasionstruppen die Worte umzusetzen versuchen: Die russischen Truppen hätten aktuell das Tempo ihrer Offensiv- und Angriffsoperationen erhöht, schreibt die Ukrainska Prawda: „Sie suchen nach Wegen, die ukrainische Verteidigung zu durchbrechen und versuchen, ukrainische Einheiten aus ihren Stellungen zu drängen.“ Das aber bisher ohne Ergebnis.

Lawrow beziehe sich in seiner Außenpolitik auf russische Verfassungsbestimmungen, nach denen die Grenzen der Verwaltungsbezirke Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk als russisches Territorium betrachtet werden, analysiert das Institute for die Study of War (ISW). 99 Gefechte an verschiedenen Frontabschnitten meldet die Prawda unter Berufung auf einen aktuellen Facebook-Post des ukrainischen Generalstabs für einen Kriegstag. Brenzlig sei die Situation demnach vor allem an der Pokrowsk-Front und im Verwaltungsbezirk Charkiw. An der Pokrowsk-Front drängen die Russen laut dem ukrainischen Generalstab weiter auf einen Durchbruch. „Seit Beginn des Tages haben sie die Verteidigungslinien der ukrainischen Verteidiger 34 Mal angegriffen. 23 ihrer Angriffe schlugen fehl, und 11 weitere Angriffe sind im Gange“, schreibt der Generalstab auf Facebook.

„Wir sind sicherlich offen für einen Dialog, der auf der Anerkennung der Realitäten beruht, vor allem der territorialen, die in der Verfassung der Russischen Föderation verankert sind: Nichtdiskriminierung von allem Russischen in der Ukraine, Verbot der Verherrlichung von Nazis und Umwandlung der Ukraine in einen normalen säkularen Staat. Dies sind machbare Forderungen, die ich nicht als übertrieben bezeichnen würde.“ 

Die Nato rechne nach den Worten ihres noch kurz amtierenden Generalsekretärs Jens Stoltenberg nicht mit „großen Durchbrüchen“ der russischen Streitkräfte in der Ukraine, wie beispielsweise der Tagesspiegel berichtet. „Sie haben in diesem Frühjahr und Sommer erneut versucht, eine Offensive zu starten – aber bisher nur marginale Erfolge erzielt“, sagte Stoltenberg demnach gegenüber der Nachrichtenagentur Agence France Press. Ihm zufolge sehe die Nato keine Anzeichen dafür, dass Russland die Fähigkeiten oder die Kraft für große Durchbrüche besäße. Wie Zeit Online berichtet, habe das ISW im Raum Charkiw zwar vereinzelte Gefechte gemeldet; die soll die Ukraine aber gewonnen haben, insofern konstatiert das ISW an diesem Frontabschnitt eine Pattsituation.

Ukraine beständig gegen Russland: „Die Lage ist angespannt, aber nicht katastrophal.“

Im Raum um Pokrowsk meldet die ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform für die vergangenen 24 Stunden 27 Gefechte. Laut der Ukrainska Prawda fanden im Raum Pokrowsk sogar 38 Gefechte statt – Gefechte „verschiedener Intensität“. Die Situation sei kompliziert, aber unter Kontrolle der Verteidiger, meldet Ukrinform unter Berufung auf den ukrainischen Generalstab. Auch Militäranalysten bleiben gelassen: Die Lage sei angespannt, aber nicht katastrophal, sagt Franz-Stefan Gady gegenüber dem ZDF. Der Analyst des ISW halte den Juli für den entscheidenden Monat an den Frontabschnitten. Ende Juli würde sich die gerade angestoßene Mobilisierungswelle der Ukraine auswirken und die Front verändern.

Ukrainischer Soldat
„Keine Stellungen verloren“: Die Ukraine gewinnt in den umkämpften Regionen offenbar wieder Handlungsfreiheit – ihnen gelingen auch wieder Rückeroberungen (Archivfoto). © Efrem Lukatsky/AP/dpa

Gady spricht von mehreren zehntausend Mann, die gerade ihre militärische Ausbildung beginnen – er rechne mit einem ersten infanteristischen Schliff über fünf Wochen hinweg. Diese Grundausbildung sei ihm zufolge für alle Einberufenen gleich, danach folge für einige Tage oder Wochen die spezialisierte Ausbildung in den verschiedenen Brigaden beziehungsweise in den Nato-Partnerländern oder sogar in den USA, wie beispielsweise die Ausbildung der Piloten oder Patriot-C.rews. Gady begründet die schwierigen Verhältnisse an den Frontabschnitten vor allem mit den auf der ukrainischen Seite aktuell fehlenden Kräfte.

Ukraine auf Augenhöhe mit Russland: „Keine Stellung ist verloren gegangen“

An der Kupjansk-Front sollen ukrainische Verteidiger seit Tagesbeginn sieben Angriffe russischer Streitkräfte in der Nähe von Synkiwka, Berestowe, Stelmachiwka und Stepowa Nowoseliwka abgewehrt haben – allerdings würden verschiedene Scharmützel noch anhalten. An der Lyman-Front wären demnach elf Angriffe der Russen fehlgeschlagen – die Russen hätten laut dem ukrainischen Generalstab vergeblich versucht, ihre Positionen zu verbessern. Die Invasoren setzten demzufolge zwei Angriffe in den Gebieten um Newske und Makijiwka fort. Die Lage sei aber unter Kontrolle.

An der Front um Siwersk griffen die russischen Streitkräfte weiterhin in den Gebieten Bilohoriwka, Spirne und Rozdoliwka an. Neun Gefechte zählt der Generalstab dort, vier Angriffe wurden abgewehrt, fünf Gefechte dauern an. Die Stadt Torezk scheint weiter im verstärkten Interesse Russlands zu stehen, dort greifen die Russen massiert an, sieben Gefechte werden innerhalb eines Tages gezählt. Unverändert bleiben die Aktivitäten an der Front in Kurachowe – vor allem in den Ortschaften Krasnohoriwka, Heorhiiwka und Paraskowiiwka – Russland hat dort an einem Tag sieben Mal angegriffen. An der Prydniprowske-Front sollen fünf russische Angriffe erfolglos geblieben sein. „Der Generalstab gibt an, dass keine Stellungen verloren gingen“, schreibt die Ukrainska Prawda.

Die russischen Angriffe könnten so heftig sein, weil die Aggressoren den Entsatz der Verteidiger erwarteten; die Zeit, in denen ukrainische Verluste kaum ausgeglichen werden könnten, wollten die Russen insofern nutzen, vermutet Analyst Gady im ZDF. Direkt an der Front kämpften aktuell knapp unter 200.000 Kräfte auf der jeweiligen Seite gegeneinander – dazu zählt er für jeden direkt kämpfenden Soldaten drei mit Unterstützungsaufgaben. Allerdings, so räumt er ein, wird mit der Dauer des Krieges auch der Soldat älter: Gady schätzt, dass das Durchschnittsalter der Soldaten, vor allem auf ukrainischer Seite, von 40 Jahren bei Beginn des Krieges auf 45 Jahre gestiegen sei. Ihm zufolge sei aber wichtig zu verstehen, „dass keine der Seiten eine solche quantitative Überlegenheit hat, dass es zu einem entscheidenden Durchbruch kommen kann“, sagt Gady.

Putin lockt an die Front mit dem Erlass von Krediten oder Schulden

Laut Angaben des Institute for the Study of War muss auch Russland offenbar im eigenen Land um neue Soldaten kämpfen: Das russische Militär werbe demnach nach wie vor für den russischen Militärdienst mit dem Versprechen hoher Zahlungen und der Aussetzung von Schulden, Krediten und Strafanzeigen. Ein russischer Militärblogger veröffentlichte laut ISW zur Rekrutierung russischer Soldaten eine Anzeige, in der eine einmalige Zahlung von umgerechnet ungefähr 14.500 Euro, ein Monatsgehalt von umgerechnet etwas mehr als 2.100 Euro, die Aussetzung von Gerichtsverfahren wegen Schulden und Krediten und die Möglichkeit der Löschung des eigenen Strafregisters versprochen wurden.

Der Russische Föderationsrat hatte Ende 2022 ein Gesetz erlassen, womit Strafverfahren ausgesetzt würden gegen Soldaten oder freiwillig zum Kriegsdienst Gemeldete. Im März dieses Jahres hatte Präsident Wladimir Putin ein Gesetz erlassen, womit sich von Strafverfolgung Bedrohte durch Eintritt in die Armee ihrer Verfahren entledigen konnten, berichtet das ISW. Sergej Lawrow stellte jetzt während der „Primakow-Lesungen“ klar, dass der Krieg wohl noch älter werden wird. „Wir sind sicherlich offen für einen Dialog, der auf der Anerkennung der Realitäten beruht, vor allem der territorialen, die in der Verfassung der Russischen Föderation verankert sind“, sagte er und machte alle Hoffnungen auf einen Frieden ohne territoriale Zugeständnisse der Ukraine nochmals zunichte.

Als „Selenskyjs hoffnungslose und bedingungslose ,Friedensformel‘“ titulierte er die Bedingung des russischen Rückzugs auf die Grenzen der Ukraine von 1991. All diese „vergeblichen Versuche“ hätten ihm zufolge keine Zukunft und „erzielen bereits jetzt einen diametral entgegengesetzten Effekt‘“. Lawrow spricht darüber hinaus weiterhin von der „Nichtdiskriminierung von allem Russischen in der Ukraine, Verbot der Verherrlichung von Nazis und Umwandlung der Ukraine in einen normalen säkularen Staat“ als Bedingung für einen Frieden. „Dies sind machbare Forderungen, die ich nicht als übertrieben bezeichnen würde.“

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