„Der beste Deal“: Kriegsgegner hatten über Frieden verhandelt – bleiben aber unversöhnlich

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„Der beste Deal“: Kriegsgegner hatten über Ukraine-Frieden verhandelt – bleiben aber unversöhnlich

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Kein Frieden in Sicht: Der Terror gegen die Zivilbevölkerung lässt den Groll auf Russland wachsen. Durch einen der heftigsten Luftangriffe in mehr als zwei Jahren hat Russland im März das Energiesystem der Ukraine beschädigt. Im April 2022 schien aber ein Verhandlungsfrieden noch möglich gewesen zu sein. (Symbolbild) © Yevhen Titov/AP/dpa

Frieden war möglich – im April 2022. Offenbar beweist ein Dokument, dass sich beide Konfliktparteien verständigt hatten. Dann wurde Russland stärker.

Kiew – „Mission Impossible“, behauptet Sabine Fischer; und auch Deutschlands bekanntester Militärhistoriker mochte jüngst zum zweiten Jahrestag des Ukraine-Krieges keinen Silberstreif am Horizont erkennen: „Eine Chance für Frieden sehe ich derzeit nicht“, sagte Sönke Neitzel der Freien Presse und unterstützte die Meinung der Politikwissenschaftlerin der Stiftung Wissenschaft und Politik, die sie schon im Oktober 2022 publiziert hatte. Fischer hatte sich bezogen auf Friedenshandlungen zwischen beiden Konfliktparteien, die seit dem Einmarsch im Februar 2022 auf kleiner Flamme köchelten und im Oktober durch Wolo­dymyr Selenskyj abgebrochen worden waren – die Welt berichtet jetzt über ein 17-seitiges Papier, dass den Ukraine-Krieg vermutlich schon Mitte April 2022 hätte beenden können – einen Vertragsentwurf zwischen beiden Gegnern.

„Friedensverhandlungen hängen stets von der militärischen Situation, also den Macht­verhältnissen zwischen den Kriegsparteien ab“, schreibt Sabine Fischer. Und tatsächlich hatte sich Wladimir Putin mit seinem ungestümen Einmarsch kolossal verkalkuliert – seine Truppen steckten fest, die Ukraine schien die benachbarte Supermacht schnurstracks wieder aus dem Land befördern zu können. Allerdings scheint der wissenschaftliche Konsens zu sein, dass die Ukraine dennoch bereit gewesen war zu „weitreichenden Kompromissen“, wie Fischer schreibt.

Russlands Diktat: Ukraine sollte sich zu „permanenter Neutralität“ verpflichten

Allerdings habe sich das geändert im Zuge des Verlaufs des Konfliktes: Russlands Gräueltaten gegenüber der ukrainischen Zivilbevölkerung sowie die ukrainischen militärischen Achtungserfolge ließen das Vertrauen in Russland sinken sowie das Selbstvertrauen der Ukraine wachsen. Grundsätzlich scheint die Antriebsfeder der Aggression Russlands in dessen Angst vor der Erweiterung der Nato nach Osten zu liegen. Laut den Unterlagen der Welt soll der Artikel 1 des Vertragsentwurfes beinhaltet haben, dass sich die Ukraine zu „permanenter Neutralität“ verpflichtet. Das sollte bedeuten, dauerhaft sowohl auf Besitz oder Stationierung von Atomwaffen zu verzichten, als auch auszuschließen, dass Nato-Truppen in der Ukraine stationiert würden beziehungsweise ihnen militärische Infrastruktur offen stünde, beispielsweise Flugplätze.

„Verhandlungsergebnisse müssen innenpolitisch verkauft werden können; also zwei Konfliktparteien können auch ein noch so gutes Abkommen schließen – wenn das innenpolitisch in einem der beiden Länder oder Gesellschaften eben nicht durchsetzbar ist, dann wird der Frieden auch nicht halten.“

Auch gemeinsame Übungen wären danach ausgeschlossen gewesen – den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union wiederum hätte Russland akzeptiert. Allerdings behauptet die SWP-Wissenschaftlerin Fischer, dass seit der Annexion der Krim zehn Jahre vor dem Einmarsch Russlands ins ukrainische Kernland eine dauerhafte Versöhnung mit Russland in der Ukraine ohnehin als „unrealistisch“ angesehen und statt dessen die politische wie militärische Anbindung an den Westen gesucht wurde. Für Wladimir Putin gilt bis heute die Krim als umverhandelbar, für Wolodymyr Selenskyj haben die Sicherheitsgarantien durch Russland höchste Priorität. Ein nahezu unversöhnliches Patt zwischen beiden Staatsoberhäuptern – beziehungsweise beiden Völkern.

In Artikel 5 des vermeintlichen Vertragsentwurfs von damals sichert Russland der Ukraine die Sicherheit auch zu. Im Endeffekt ähnelt dieser Passus dem Artikel 5 der Nato-Beistandsverpflichtung. Russland schlug danach vor, dass die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates der Ukraine deren Unversehrtheit hätten garantieren sollen. Neben Frankreich, den USA, China und dem Vereinigten Königreich wäre auch Russland ein Unterzeichnerstaat gewesen. Der Vertragsentwurf enthält damit die russische Anerkenntnis des in der UN-Charta verbrieften Rechts eines Landes auf Selbstverteidigung – auch durch Hilfe anderer Länder. Allerdings setzte dieser Passus voraus, dass der Friedensvertrag in allen Ländern des Sicherheitsrates hätte ratifiziert werden müssen – inklusive deren Verpflichtung der Ukraine zur Neutralität.

Putins Idee: Garantien für die Ukraine – mit einem Veto-Recht für Russland

Darüberhinaus hatte sich Russland ausbedingen wollen, „dass im Falle eines Angriffs alle Garantiestaaten ihr Einverständnis zur Aktivierung des Hilfsmechanismus geben müssten. Dies hätte Moskau ein Vetorecht eingeräumt, um den Verteidigungsmechanismus außer Kraft zu setzen. Darüber hinaus lehnte Moskau die Forderung der Ukraine ab, dass die Garantiestaaten im Falle eines Angriffs eine Flugverbotszone über der Ukraine errichten könnten“, wie die Welt aus dem Dokument zitiert.

Im Gegenzug hätte Russland seine Truppen aus der Ukraine zurückgezogen – aber: Ausgenommen von diesen Sicherheitsgarantien waren laut russischer Forderung die Krim sowie dessen Hafen Sewastopol – den hatte Russland 2014 zur Basis seiner Schwarzmeer-Flotte gemacht. Damit hätte Russland die Krim aus dem ukrainischen Kernland herausgelöst und sich rechtlich abgesichert einverleibt. Ähnlich strittig sind bis heute der Status von Donezk und Luhansk, die Russland ebenfalls völkerrechtswidrig unter Kuratel genommen hatte. Im Vertragsentwurf wird, laut Welt, nur diffus gesprochen von Gebieten in der Ostukraine, die von den Sicherheitsgarantien ausgenommen blieben sollten – letztendlich war wohl vorgesehen, dass sich die beiden Präsidenten Putin und Selenskyj gemeinsam auf einer Landkarte über die verbindlichen Grenzverläufe hätten einig werden sollen.

Demilitarisierung der Ukraine – Vorstellungen lagen meilenweit auseinander

Auch die Frage der Sprache soll wohl unverhandelbar gewesen sein, weil Russland forderte, Russisch zur zweiten Staatssprache zu machen, wie die Ukrainska Prawda berichtet. Zu guter Letzt beharrte Moskau auf einer weitgehenden Demilitarisierung der Ukraine – der Vertragsentwurf nennt wohl explizite Zahlen. Die Truppenstärke sollte massiv zurückgefahren werden – von den geschätzten eine Million Soldaten zu Beginn des Ukraine-Krieges sollte die ukrainische Armee gestutzt werden auf 85.000 Kräfte unter Waffen. Kiew hätte 250.000 angeboten, schreibt die Welt. Russland hätte demnach rund 350 Panzer akzeptiert, Kiew hatte wohl auf 800 bestanden; an Artilleriegeschützen hätte Russland der Ukraine etwas mehr als 500 zugestanden, Kiew hatte der Welt zufolge auf 1.900 Stück beharrt.

Insgesamt, so resümiert die Welt, hätten sich die Konfliktparteien in der ersten Phase des Ukraine-Krieges aufeinander zu bewegt, seien aber schlussendlich doch unversöhnlich auseinander gegangen. „Das war der beste Deal, den wir hätten haben können“, zitiert die Welt am Sonntag ein Mitglied der damaligen ukrainischen Verhandlungsdelegation; damals standen die Verteidiger mit dem Westen in Verhandlungen für Waffenlieferungen und hatten wahrscheinlich bereits eine Gegenoffensive geplant; Russland hatte zu dem Zeitpunkt mehr zu verlieren gehabt. Insgesamt stellte Russland als Aggressor seine Forderungen, auf die die Ukraine reagierte – häufig mit Ablehnung. Die Dynamik der Verhandlungen folgte indes dem Verlauf der Kampfhandlungen, wie Sabine Fischer für das SWP klarstellt.

Demnach habe Russland nach dem gescheiterten Handstreich auf Kiew seine Militärschläge vom Norden der Ukraine verlagert auf den Donbas und den Süden. Fischer: „Während die russische politische Führung von einer ,Geste des guten Wil­lens‘ sprach, wuchs in der Ukraine und auf inter­nationaler Ebene das Entset­zen über die in den befreiten Gebieten auf­gedeckten Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Kiew hielt vorerst noch an den Ver­handlungen fest. In der ukrainischen Gesell­schaft je­doch schwand angesichts der Bilder aus Butscha, Irpin und anderen Orten die Unterstützung für einen Kom­promiss mit Russland.“

„Mission Impossible“: Frieden muss auch innenpolitisch verkauft werden können

Diese Einschnitte in die Integrität des Landes und der noch immer anhaltende Terror werden einen Frieden am Verhandlungstisch vermutlich bis auf Weiteres unmöglich machen, glaubt auch Nicole Deitelhoff, wie sie gegenüber dem Nachrichtensender Phönix gesagt hat – demnach gefährde einen Friedensschluss, wenn eine Partei eine Verhandlung als Sieger verließe und der anderen Partei ihre Bedingungen diktiere. Aber damit nicht genug, wie die Friedensforscherin der Frankfurter Goethe-Universität sagt: „Das Zweite ist, was viele häufig nicht bedenken, Verhandlungsergebnisse müssen innenpolitisch verkauft werden können; also zwei Konfliktparteien können auch ein noch so gutes Abkommen schließen – wenn das innenpolitisch in einem der beiden Länder oder Gesellschaften eben nicht durchsetzbar ist, dann wird der Frieden auch nicht halten.“ (KaHin)

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