Älteren Menschen eine Heimat bieten
„Altwerden in der Stadt. Kommunale Seniorenpolitik“ war das Schwerpunktthema der Vollversammlung des Bayerischen Städtetags in Kempten.
Kempten – „Es gibt eine lange Liste von Themen, die den Städten unter den Nägeln brennt“, sagte Markus Pannermayr, Vorsitzender des Bayerischen Städtetages und Oberbürgermeister der Stadt Straubing in seiner Eröffnungsrede. Deswegen sei es erstaunlich, wie schnell man sich vor einem Jahr auf das jetzige Schwerpunktthema habe einigen können. Es handle sich um die Bevölkerungsgruppe, die in nächster Zeit am schnellsten und überproportional wachsen werde: um 25 Prozent innerhalb von 20 Jahren, um 20 Prozent mehr als die Bevölkerung allgemein.
„Und wir sind Teil dieser Situation. Wir reden darüber, unter welchen Voraussetzungen wir selbst alt werden“, fügte er hinzu. Von vielen Änderungen, die der Städtetag in seinem Positionspapier einfordert, profitieren alle Generationen. Der barrierefreie Einstieg in den Bus komme nicht nur Menschen mit Rollator oder im Rollstuhl, sondern auch Eltern mit Kinderwagen zugute.
An einem konkreten Beispiel sollte für die Landespolitik sichtbar werden, dass die Forderungen nicht abstrakt, sondern sehr konkret sind, erklärte der Vorsitzende. Professor Andreas Kruse bescheinigte, dass das vom Städtetag erstellte Papier das beste sei, das er in den letzten Jahren habe lesen dürfen.
Gemeinsames Ziel: Menschen eine Heimat geben
Das gemeinsame Ziel sei, am Beispiel alter Menschen aufzuzeigen, wie man ihnen eine Heimat gibt, wie Orte geschaffen werden, wo sie sich angenommen fühlen, wo sie authentisch das Gefühl haben, ihren persönlichen Anteil zum Gelingen des Zusammenlebens zu leisten. „In unseren Städten findet sehr viel Einsamkeit statt, viel mehr als wir wahrnehmen wollen“, warnte Pannermayr. „Wir wollen den Menschen die Angst nehmen. Man sollte keinen besonderen Mut brauchen (‚Altwerden ist nichts für Feiglinge‘), um in unseren Städten alt zu werden“, ergänzte Markus Loth, zweiter stellvertretender Vorsitzender des Städtetags, Bürgermeister der Stadt Weilheim.
Das Altwerden habe unglaublich viele Gesichter, von den sportlich fitten E-Bike-Fahrern bis zu den dementen und depressiven Menschen, die sich im Leben nicht mehr zurechtfinden. Wichtig sei es, allen mit Achtsamkeit zu begegnen, die im Grundgesetz festgeschriebene Würde sei an keine Bedingungen geknüpft, sagte Pannermayr. Die Kommunen wollen und können dabei ihren Beitrag leisten, sie brauchen jedoch die entsprechenden Mittel dafür. Genauso vielseitig wie das Altwerden seien die Antworten auf die Herausforderungen.
Wohnen im Quartier
„Menschen haben das Bedürfnis, im eigenen Wohnraum älter zu werden“, so der Vorsitzende. Deshalb brauche man mehr bezahlbare barrierefreie oder barrierearme Wohnungen. Bei der Städtebauförderung sei eine stärkere finanzielle Ausstattung notwendig, Kürzungen dürfe es nicht geben. Der Zugang zu den Fördermitteln müsse unkompliziert werden, das erleichtere den Weg auch für ältere Menschen, davon zu profitieren. Außerdem finde man in den Verwaltungen immer weniger Mitarbeiter, die bereit seien, mit den komplizierten Anträgen zu kämpfen. Die Finanzwege sollten für kreative Lösungen geöffnet werden, für Menschen, die ihren Wohnraum selbst organisieren wollten. Außerdem brauche man Verlässlichkeit bei den Förderprogrammen.
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Eine achtsame Landesplanung könnte für die Städte die Chance bieten, sich aus dem Inneren zu erneuern. Für das altersgerechte Wohnen sei die Stadt der kurzen Wege unerlässlich, mit hohem Wiedererkennungswert, Einkaufsmöglichkeiten und Arztpraxen, Begegnungsorten und niederschwelligen Angeboten, auch im finanziellen Sinne, betonte der Vorsitzende.
Soziale Integration und Diversität
„Der eigene, passende Wohnraum ist der Grundstein für die gesellschaftliche Teilhabe“, steht im Positionspapier. Ältere Menschen engagieren sich oft ehrenamtlich. Hierbei fühlen sie sich wahrgenommen und wertgeschätzt, sie erleben das positive Gefühl, Teil der Gemeinschaft zu sein. Für eine soziale Exklusion sei vor allem die Altersarmut verantwortlich, stellte Pannermayr fest. Bei freiwilligen Leistungen wie sozialen Mittagstischen, ermäßigten Eintritten oder der Förderung von Lesepatenprojekten dürfe man den Rotstift nicht ansetzen. Dadurch ließen sich die städtischen Finanzen nirgendwo retten.
Die Bedeutung von Menschen mit Migrationshintergrund in der Altersgruppe ab 65 Jahren wächst: 2010 waren es 1,4 Millionen, 2020 bereits 2,2 Millionen in der Bundesrepublik, kann man im Positionspapier lesen.
Mobilität
„Mobilität bedeutet Lebensqualität. Wer mobil ist, kann am öffentlichen Leben teilnehmen“, sagte Dr. Thomas Jung, erster stellvertretender Vorsitzender des Städtetags, Oberbürgermeister der Stadt Fürth. In den Ballungszentren existiere ein gutes Nahverkehrsangebot, das weiter ausgebaut werden sollte. Im ländlichen Raum sehe es ganz anders aus. Hier sei man bis ins hohe Alter auf das Auto angewiesen.
Zurzeit werde viel in die Digitalisierung investiert. „Aber was nützt die Digitalanzeige den Menschen, wenn der Bus nicht kommt?“, fragte er. Man könne von den Leuten nicht erwarten, dass sie für alles in die Stadt fahren. Die Menschen bräuchten vor Ort eine Infrastruktur: Einkaufsmöglichkeiten, einen Arzt, Orte der Begegnung und ein Kulturangebot. Wenn die Leute das Gefühl bekommen, nicht wahrgenommen zu werden, entstehe eine Gefahr für die Demokratie.
Pflege
Der Kemptener Oberbürgermeister Thomas Kiechle stellte den Teilnehmern einige Fragen, die sie per Smartphone beantworten konnten. Wie viel Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt, war eine der Fragestellungen. Die Schätzung lag der offiziellen Statistik sehr nah: 80 Prozent. „Die Menschen daheim sind Deutschlands größter Pflegedienst“, sagte Kiechle. Er habe großen Respekt vor diesen Leuten, die das oft neben Kindererziehung und Arbeit leisten. „Die Fälle entstehen häufig überraschend, man steht plötzlich vor einer großen Herausforderung.“
Für den hohen Anteil verantwortlich sei auch, dass die Familien einen Pflegeplatz finanziell nicht leisten könnten, betonte Gertrud Maltz-Schwarzfischer, Oberbürgermeisterin der Stadt Regensburg. Man übernehme die Pflege zu Hause, solange die Familienmitglieder diese kräftemäßig und mental schafften. Massive Probleme, Überlastung und Gewalt seien die Folgen.
Immer weniger Pflegepersonal
„Je älter der Mensch, desto wahrscheinlicher wird eine Erkrankung“, betonte Markus Loth. „Eine große Welle rollt bei der Pflege auf uns zu. Immer mehr Pflegebedürftige kommen auf immer weniger Pflegepersonal.“ Katrin Albsteiger, Oberbürgermeisterin von Neu-Ulm erzählte, dass ihr Stadtrat sich weigerte, für den Bau eines Pflegeheimes ein Grundstück einem Investor zu überlassen, weil die bestehenden Einrichtungen wegen des Fachkräftemangels Leerstände hätten. Sie forderte eine leichtere Anerkennung von ausländischen Abschlüssen. Sozialministerin Ulrike Scharf berichtete, dass die Bündelung aller Angelegenheiten im Landesamt für Pflege bereits einen 25-prozentigen Zuwachs gebracht habe an Anträgen für Arbeitsgenehmigungen für ausländische Arbeitnehmer.
Loth schilderte die negativen Auswirkungen der Krankenhaus- und Apothekenschließungen für den ländlichen Raum. Die ambulante Pflege vor Ort müsse gestärkt und die Pflegeversicherung reformiert werden. Es gehe nicht, dass die ganzen Ersparnisse der Pflegebedürftigen aufgebraucht werden und sich dadurch das Problem der Altersarmut verschärfe.
Demenzsensible Stadt
In Bayern leben zurzeit 270.000 von Demenz Betroffene, 2040 werden es 380.000 sein. Ziel sei es, in Zukunft dafür zu sorgen, dass sie möglichst lange im eigenen Wohnumfeld bleiben können. Dafür müssen die Kommunen Konzepte entwickeln, fordert der Städtetag.
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