So haben Deutschlands links-postmaterielle Moralisten an Einfluss verloren

Viele politischen Strömungen erleben nicht selten ein dynamisches Wachstum, erreichen einen fulminanten Höhepunkt und verlieren, alsbald der Erfolg oder die Überzeugung nachlassen, irgendwann an Prägekraft. So auch der Postmaterialismus, eine der einflussreichsten Ideenschulen der letzten Jahrzehnte. 

Die Grünen profitierten davon besonders vom Postmaterialismus

Sein Aufstieg begann in den 1990er Jahren, getragen vom Optimismus des "Endes der Geschichte" und dem Siegeszug westlicher Demokratien. Was einst als akademisches Randphänomen in den USA belächelt wurde, durchdrang auch hierzulande Schritt für Schritt Medien, Bildung, Politik und Gesellschaft. 

Die Grünen profitierten davon besonders, gefolgt von SPD, Linken und sogar Teilen der CDU.

Von der Migrationsdebatte über die Klimakrise bis zur Identitätspolitik: Postmaterielle Ideale wie Nachhaltigkeit, individuelle Selbstverwirklichung, globale Gerechtigkeit, Anti-Kolonialismus, Globales-Süden-Denken, eine sehr liberale Migrationspolitik, feministische Außenpolitik, Gendern und ethische Verantwortung bestimmten den Diskurs. 

Immer mehr belehrende Politik der Alternativlosigkeit

Selbst Ziele, die für sich genommen nur wenig zu beanstanden sind, stießen jedoch in ihrer nicht selten unzureichenden praktischen Umsetzung auf erhebliche gesellschaftliche Spannungen. Oft wurde zu wenig debattiert, zu viel moralisiert.

Gerade der Anspruch auf moralische Deutungshoheit erschwerte offene Diskussionen. Wo demokratischer Diskurs notwendig gewesen wäre, entstand der Eindruck einer belehrenden Politik der Alternativlosigkeit. 

Wer Zweifel äußerte oder Fragen stellte, geriet schnell unter Verdacht. Die Kluft zwischen idealistischem Anspruch und konkreter Lebensrealität wurde größer. 

Ein ausgewogener Umgang zwischen Idealismus und Pragmatismus fand kaum statt – und genau das ist einer der Hauptgründe für den aktuellen Bedeutungsverlust.

Postmaterialismus ist nicht links

Ein verbreiteter Irrtum ist dabei die Gleichsetzung postmaterieller Konzepte mit einer klassischen Linksverschiebung. Zwar gibt es deutliche Schnittmengen, doch sind beide nicht deckungsgleich. Tatsächlich können postmaterielle Ansätze klassische linke Kernanliegen sogar verdrängen. 

In SPD und Linken beispielsweise traten sozialpolitische Themen wie Rente oder Wohnraum in den Hintergrund, während identitätspolitische Agenden und eine progressive Migrationspolitik das Ruder übernahmen. 

In solchen Konstellationen stehen sich dann These und Antithese oft unversöhnlich gegenüber. Die Dialektik der Aufklärung scheitert an der Realpolitik.

Linke Ideen unterwandern

Das führte erst zur Ratlosigkeit und zu einem internen Gegentrend. Der Postmaterialismus ist in eine Krise geraten und sucht Orientierung. Als Reaktion greifen heute manche Akteure auf alte linke Narrative zurück – etwa De-Growth-Konzepte oder umverteilungspolitische Forderungen. Auch alt-sozialistische Töne sind wieder in Mode. 

Exemplarisch lässt sich das bei Fridays for Future erkennen: Was einst als Klimabewegung begann, ist teils von antikapitalistischen und antiwestlichen Ideen überlagert. Der Postmaterialismus zeigt sich empfänglich für linke Interventionen, ohne selbst konsistent links zu sein. 

Es entsteht eine neue, unscharf umrissene links-postmaterielle Richtung. Doch von welchen Menschen reden wir eigentlich? Wie groß ist die Gruppe, die dies betrifft?

Das postmaterielle Milieu umfasst rund 12 Prozent der Bevölkerung

Das postmaterielle Milieu umfasst rund 12 Prozent der Bevölkerung. Es ist urban, gebildet, finanziell abgesichert, häufig im öffentlichen Dienst tätig, politisch grünnah und stark auf immaterielle Werte fokussiert. 

Engagement für globale Anliegen gehört ebenso dazu wie der Drang zur individuellen Selbstentfaltung. In dieser Doppelrolle von Weltverbesserung und Selbstoptimierung bleibt für viele alltägliche Sorgen der übrigen Bevölkerung oft wenig Raum.

Distanz zur Lebensrealität anderer

Das bedeutet nicht zwangsläufig zu der oft propagierten Arroganz, aber es fördert eine gewisse Distanz zur Lebensrealität anderer. Man ist vertraut mit den Problemen des globalen Südens, aber weniger mit denen des benachbarten Plattenbaus. 

Symbolpolitik ersetzt zu oft strukturpolitische Antworten. Das Heizungsgesetz etwa verfolgte ein ehrenwertes Ziel, vernachlässigte aber soziale Folgen und wurde damit zum Symbol für einen Politikstil, der als elitär empfunden wird.

Über den Experten Andreas Herteux

Andreas Herteux ist ein deutscher Wirtschafts- und Sozialforscher, Publizist und der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft. Herteux ist zugleich Herausgeber und Co-Autor des Standardwerks über die Geschichte der Freien Wähler (FW). Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Ergänzend dazu steht ein junges, neo-ökologisches Milieu (8 Prozent), das keine Kompromisse mehr akzeptieren will. Es fordert Konsequenz statt Konzepte. Ein Teil dieser Gruppe trug zum Wahlerfolg der Linkspartei 2025 bei. 

Sie könnten eine neue linke Wende anstoßen, doch auch sie bleiben eine Minderheit, die allerdings groß genug ist, um in einer eigenen, sich selbstbestätigenden Wirklichkeit existieren zu können. Die breite Bevölkerung lehnt diesen Kurs allerdings sichtbar ab.

Der Einfluss der links-postmateriellen Akteure schwindet

In dieser Ablehnung formiert sich Widerstand – nicht unbedingt ideologisch, aber deutlich spürbar. Wahlergebnisse lügen nicht. 

Die links-postmateriellen Akteure versuchen sich trotzdem weiter als Bewahrer eines gesellschaftlichen unbestimmten Ideals zu behaupten. Doch ihr Einfluss schwindet. 

Mediale Unterstützung wird spärlicher, die Resonanz geringer. Was früher als Aufschrei galt, verhallt heute wirkungslos. Wenn das moralisch Absolute nicht mehr als solches empfunden wird, verliert es seine Dominanz.

Und so stehen wir vor einer neuen Phase politischer Realität. Die Herausforderungen unserer Zeit sind gewaltig: 

  • Migration
  • Wohlstandssicherung
  • Außenpolitik
  • Bildung
  • Energie
  • innere Sicherheit. 

Lösungen verlangen keine moralischen Monologe, sondern Kompromisse. Einen konstruktiven Pragmatismus.

Demokratischer Konsens und Akzeptanz der neuen Rolle

Es geht nicht nur um konservative Realpolitik, sondern auch darum, dass jene, die lange den moralischen Diskurs bestimmt haben, sich wieder in den demokratischen Konsens einordnen. Das mussten sie lange nicht. Zu lange und darin ist auch ihr Scheitern begründet. 

Trotzdem benötigt es auch sie. „Der Stärkste ist am mächtigsten allein“, heißt es bei Schiller so schön, aber diese Macht ist Geschichte.

Und ja, man kann es nur tadeln. Auch die konservativ-liberalen Kräfte sind gescheitert und hatten postmaterialen Idealen kaum etwas Intellektuelles entgegenzusetzen. 

Ihre Schwäche vereinfachten Aufstieg und Dominanz massiv – auch das ist ein Teil der Wahrheit. Fehlender Widerstand gebärt Niederlagen und dies war gewiss kein deutsches, sondern ein generelles Phänomen in den westlich-geprägten Demokratien.

Zurück zur Mitte: Das gilt letztendlich für alle und es mag weniger erhaben wirken als das Streben nach Weltverbesserung, aber es ist praktikabel, inklusiv und dringend notwendig. Jetzt zählt nicht mehr die richtige Haltung, die in einer fragmentierten Gesellschaft sowieso selten absolut sein kann, sondern die tragfähige Lösung. 

Ohne diese wird man sich in naher Zukunft über links-postmaterielle Ideale noch weniger Gedanken machen müssen und auch der demokratische Konsens könnte verzichtbar werden. Wer dies aber nicht erkennt, versündigt sich und wird seine Verantwortung schlicht nicht gerecht.

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