Ausstellung zeigt Wege auf, wie man das „Flüstern der Berge“ wahrnimmt

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Menschen und Masken in der Landschaft sind das Thema von Nikolaus Faßlrinner (links) und Anna Dorothea Klug. © Fischer

„Über allen Gipfeln ist Ruh‘“, zitierte Annette Hauser-Felberbaum Johann Wolfgang von Goethes „Wandrers Nachtlied“ aus dem Jahre 1780 bei der Eröffnung der Ausstellung „Hörst du die Berge flüstern“ in der Kunsthalle. Die Bilder über die Müllberge auf dem Mount Everest führen uns zweifelsfrei vor Augen, dass diese Ruhe heute nicht einmal mehr für den höchsten Gipfel der Welt gilt. Das Verhältnis von Mensch und Natur hat sich in den letzten beiden Jahrhunderten radikal verändert.

Kempten – Die Menschheit, einst von ihrer Überlegenheit überzeugt, beginnt sich in der Zeit des Klimawandels und einer fast pausenlosen Abfolge von Klimakatastrophen auf die eigene Naturzugehörigkeit und auf ihre Abhängigkeit von der Umwelt zu besinnen. Die Signale der Natur zu hören, haben jedoch in der Zeit der Industrialisierung und Urbanisierung die meisten verlernt.

Um Abhilfe zu schaffen, schickte das Projekt „Intelligente Landschaften“ vor zwei Jahren Künstlerinnen und Künstler auf die Spurensuche im Allgäu (der Kreisbote berichtete). Sie erhielten dabei Unterstützung aus der Wissenschaft und durch digitale Technologien, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes.

Michaela Vieser, die 2022 mit Susa Pop gemeinsam die künstlerische Leitung innehatte, erzählte, dass der Projekttitel eine Antwort auf die diskursive Allgegenwärtigkeit der Künstlichen Intelligenz (KI) sei und die Intelligenz der Natur in den Fokus rücken wollte.

Verborgene Netzwerke in der Natur

Sie wies beispielsweise auf die Intelligenz der verborgenen Netzwerke der Pilze hin, die von Merlin Sheldrake („Verwobenes Leben“) eindrucksvoll beschrieben werden. Ist ein Fluss lebendig? Wie viel können die Tiere wahrnehmen, das wir nicht wahrnehmen? Mit derartigen Fragen konfrontierte die Berliner Nature-Writing-Schriftstellerin das Publikum in der vollbesetzten Kunsthalle.

Um eine erweiterte Aufmerksamkeit auf die Stimme der Ökosysteme zu richten, mit der sie „zu uns sprechen“, müsse man ein neues Narrativ entwickeln, schlug Pop vor. Als Vieser darüber sprach, dass die Geister der Vorfahren in den Molekülen vorhanden wären, merkte man, wie schnell man bei diesem Thema ins Esoterische abgleiten kann.

Die von Susan Funk kuratierte Ausstellung, in der vier der damals entstandenen Arbeiten in einer neuen Umgebung präsentiert werden, trägt einen weniger ehrgeizigen, aber passenden Titel: „Hörst du die Berge flüstern“. Die sechs Kulturschaffenden entwickelten bei ihrer „künstlerischen Spurensuche“ nämlich in erster Linie Methoden, um die Stimmen der Natur wahrzunehmen, ohne diese gleich interpretieren oder zuordnen zu wollen.

Intelligente Landschaften: vier Projekte

Stephan Malane verstand den Auftrag wortwörtlich und nahm auf dem Weg von Wiggensbach zum Eschacher Weiher die Klänge der Natur auf. In seiner Soundinstallation „Jenseits der Kuhglocken“, erlebbar im Innenhof der Kunsthalle, werden diese immer wieder von Zivilisationsgeräuschen überblendet.

Dass die Gleichzeitigkeit von Natur und Technik sich kaum vermeiden lasse, betonte bei der ersten Präsentation im Rahmen der Kunstnacht 2022 die Auswahl des Ortes: Im Parkhaus roch es nach Benzin, als man die Naturbilder an die Wände projizierte, erinnerte sich Pop. Diesmal bilden von Teresa Häußler und Moritz Appich entworfene und mit farbigen Stoffen kombinierte Fichtenholzleisten den Präsentationsrahmen. Sie werden nach der Ausstellung alle wiederverwendet.

Auf den Bildern der Künstlergruppe mit Maximilian Erbacher, Nikolaus Faßlrinner und Anna Dorothea Klug ist diese Parallelität vor allem im Hintergrund der fotografierten Menschen zu sehen. Ihr Projekt „Die Geister, die wir rufen“ greift auf die Tradition der Allgäuer Maskenkunst und die damit verbundenen Mythen zurück.

In ihrer Vorgehensweise wird der partizipative Charakter des Gesamtkonzepts am deutlichsten sichtbar: Sie versendeten 50 Masken an Bürgerinnen und Bürger, die mit diesen an ihren Lieblingsorten porträtiert wurden. Wenn sich das Gesicht hinter einer Maske versteckt, achtet man mehr auf die Umgebung. Dadurch kann man etwas über die Identität des Porträtierten erfahren, gleichzeitig nimmt man die Umwelt verstärkt wahr.

Die Geologischen Orgeln von Wolfertschwenden waren der Inspirationsort für Sarah Degenharts Videoinstallation „Geschliffene Gründe“. Die ständige Veränderung der Gesteine, der Pflanzenwelt, der menschlichen Erinnerungen wird beim Wechselspiel von Vor-Ort-Aufnahmen und bewegten abstrakten Grafiken eindrucksvoll vor Augen geführt.

Dass am Ende der Veränderungen das völlige Auslöschen stehen kann, beschäftigt Waltraud Funk in ihrer Video-Installation „47Grad17Minuten48SekundenNorden 10Grad17Minuten45SekundenOsten“. Hinter den geografischen Koordinaten steckt der Schwarzmilzferner, der letzte Allgäuer Gletscher, dessen Verschwinden infolge menschlichen Handelns nur eine Frage von kurzer Zeit ist. Die Zusammenarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft (in der Person des Glaziologen Dr. Christoph Mayer) war bei der Entstehung dieses Werks am deutlichsten sichtbar.

Bei beiden ­Videoinstallationen ist das Zusammenspiel zwischen Bild und Ton elementar. Die Musik in der Vernissage war auch nicht nur eine übliche „Begleitung“, sondern Teil des Ganzen. Die Gäste wurden auf dem Vorplatz von den Wiggensbacher Alphornbläsern begrüßt, also mit Instrumenten, die in den Alpen ursprünglich zur eher ungestörten Kommunikation zwischen Tieren und Menschen dienten. Die zeitgenössische Musikimprovisationen von Samuel Heinrich auf der Handpan und ein bunter Instrumentenmix während der Veranstaltung schafften den Brückenschlag zur in der Kunsthalle dargestellten komplexeren Realität der Gegenwart.

Aus dem Rhythmus

Dass die Naturperioden aus dem Rhythmus geraten sind, merkt man am Pollenflug der Fichten, den man früher alle fünf bis sieben Jahre erlebte, erzählte Funk. Jetzt blühen sie bereits in jedem zweiten Jahr. Die Pollen, die am Notzenweiher fotografiert wurden, zieren das Cover der Begleitpublika­tion, die man in der Ausstellung erwerben kann. Sie ist bis 10. November in der Kunsthalle Kempten geöffnet.

Der Mensch des Anthropozäns bereue viele Dinge, aber er müsse die Änderungen akzeptieren, meinte die Kuratorin und fügte hinzu: „Das Leben geht weiter.“

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