Klausur am Abgrund: Das müssen Merz‘ Streithähne liefern – „sonst zerbricht die letzte tragfähige Koalition“
Union und SPD zoffen sich über Parteipolitik, statt gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Nun wollen sie neues Vertrauen aufbauen. Welche Probleme es zu lösen gilt:
Würzburg – Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) kündigte unlängst einen „Herbst der Reformen“ an – und sagte im selben Zug, er wolle es der SPD dabei nicht leicht machen. Dass selbst der Regierungschef öffentlich Konfliktlinien statt eines gemeinsamen Wegs betont, lässt tief in den Zustand der noch jungen schwarz-roten Koalition blicken. Ein Streit reiht sich an den nächsten, Beteiligte sprechen mittlerweile offen von fehlendem Vertrauen. Um das zu ändern, treffen sich wichtige Köpfe aus den Fraktionen von CDU, CSU und SPD seit Donnerstag in Würzburg zur Krisen-Klausur. SPD-Fraktionschef Matthias Miersch sagte, es gehe darum, „wie wir besser zusammenarbeiten können für die großen Aufgaben im Herbst“. Unions-Amtskollege Jens Spahn gab „Teambuilding“ als Ziel aus.
Krisen-Klausur in Würzburg: Fatale Lage der Koalition aus CDU, CSU und SPD
Das hält der Politikwissenschaftler und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, Albrecht von Lucke, für bitter nötig. „Das jüngst beschlossene Wehrpflicht-Gesetz zeigt symbolisch, wie fatal die Lage der Koalition ist. Alle Fachleute beschreiben die reine Freiwilligkeit als völlig unzureichend und dem möglichen Ernstfall, einem erweiterten Angriff Russlands auf Europa ab 2029, nicht annähernd angemessen“, sagt von Lucke im Gespräch mit dem Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA. „Das Gesetz ist nur der Parteilogik geschuldet und verdeutlicht: Wir haben schon längst eine Streitkoalition, die nur noch Streitbefriedung praktiziert, aber die Sachprobleme damit nicht wirklich angeht.“

Beim Treffen in Würzburg blende die Koalition elementare außenpolitische Fragen schon aus, so von Lucke, innenpolitische Fragen „Zweiter Ordnung“ stehen im Mittelpunkt. „Es geht darum, überhaupt mal wieder Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, beispielsweise in der Frage der nächsten Kandidatin zur Verfassungsrichterin oder dem vom Kanzler angekündigten ‚Herbst der Reformen‘.“ Merz‘ Ankündigung, es der SPD nicht leicht machen zu wollen, sei kontraproduktiv. „Merz droht damit immer mehr zum Ankündigungskanzler zu werden, der keine Taten folgen lässt.“
Politikwissenschaftler: SPD in der Krise, CDU muss Zugeständnisse machen
Hoffnungen, dass sich die Stimmung in der Sommerpause bessert, enttäuschten Schwarz und Rot größtenteils. Fast täglich erhebt jemand aus CDU, CSU oder SPD die Stimme gegen den eigentlichen Partner, die Grabenkämpfe nehmen eher zu als ab. Auch deshalb haben die Fraktionsspitzen kurz vor dem Neustart der parlamentarischen Arbeit im September das Treffen in Würzburg angesetzt. Es geht um ein besseres Kennenlernen der wichtigsten Akteure im lockeren Rahmen.
„Schwarz-Rot muss eine völlig neue Grundlage der Verständigung finden. Beide Seiten müssen begreifen, dass Konzessionen notwendig sind“, sagt von Lucke dazu. „Etwa beim Thema Reichensteuer für die absoluten Spitzenverdiener, bei dem die Union der SPD entgegenkommen und ihre Notlage anerkennen könnte.“ Der Politikexperte hält die SPD für massiv geschwächt, sie steuere auf die 10 Prozent zu. Deshalb müsse nun wieder Kompromisswilligkeit signalisiert werden. „Unter Kohl wurden die Reichsten im Übrigen deutlich härter zur Kasse gebeten.“
Appell an CDU und SPD: Kompromisse statt Parteizank
Die Bereitschaft zu Kompromissen gab es zuletzt nicht mehr, selbst ein Scheitern der Regierung schließen immer mehr Abgeordneten öffentlich nicht mehr aus. Eine brandgefährliche Situation. „Schwarz-Rot arbeitet nur noch in Parteilogiken und nicht in Sachfragen. Wenn sich das nicht ändert, wird die Lage weiter eskalieren und die letzte tragfähige Koalition mit einer Mehrheit in diesem Land zerbrechen.“, so von Luckes Befürchtung. „Dieser Verantwortung gerecht zu werden, darum muss es jetzt gehen. Die Parteien sind ja schließlich als Verantwortungskoalition angetreten.“
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Besonders die führenden Köpfe in CDU und SPD sind nun gefragt. Unions-Fraktionsvorsitzender Jens Spahn geriet im Zuge der Richterwahl in die Kritik, da er die Fraktion nicht einen und beisammen halten konnte. Aber auch sein SPD-Pendant Matthias Miersch genießt nicht immer breite Unterstützung seiner Genossen. Auf die „vermeintlich starken Personen“ kommt es nun an: „Momentan treiben besonders Lautsprecher wie Carsten Linnemann bei der Union und Philipp Türmer bei der SPD die Koalition vor sich her, während die vernünftigen Kräfte Schwäche zeigen“, warnt von Lucke.
Wie CDU und SPD die Trendwende schaffen können
Ob eine bessere Zusammenarbeit klappt, wird sich angesichts der großen Herausforderungen schnell zeigen. Die nächste Kandidatin zur Verfassungsrichterin soll bald präsentiert werden, die Sozialsysteme stehen unter massivem Finanzierungsdruck und die Wirtschaft kriselt nach wie vor. Es komme nun auf eine positive und konstruktive Stimmung zwischen den Koalitionären an, so die Forderung des Politikwissenschaftlers. „Bei Rente und Pflege ist nicht mit dem großen Wurf zu rechnen. Potenzial besteht dagegen beim Bürgergeld oder in Sachen Migration. Wenn die Koalition es den neu ankommenden Menschen erleichtert, schneller als bisher in Arbeit zu kommen, wird auch die Wirtschaft davon profitieren. Eine Maßnahme gegen die AfD wäre das im Übrigen auch.”
Nato-Generalsekretär und Klausurgast, Mark Rutte, machte derweil klar, was er abseits des Koalitionszoffs von Deutschland erwartet: „Wir dürfen nicht naiv sein, was Putin und Russland angeht“, mahnte Rutte in Würzburg zum Ukraine-Krieg und Deutschlands führender Rolle bei der Hilfe für das kriegsgebeutelte Land. „Die Ukraine braucht alles, was sie kriegen kann, um Friedensverhandlungen überhaupt erst zu ermöglichen. Wir müssen die Ukraine weiter unterstützen, dass wir in der stärksten Position gegenüber Russland sind.“