Massenhafte Ablehnung von Syrern: Asyl-Juristen befürchten Mega-Klagewelle

Als das Assad-Regime vor knapp einem Jahr in Syrien stürzte, wurden zunächst die Asylverfahren von Syrern in Deutschland auf Eis gelegt. Zu unklar war die Lage in dem ehemaligen Bürgerkriegsland. 

Seit einigen Monaten laufen Asylverfahren wieder an. Zuletzt haben sie deutlich an Tempo aufgenommen, wie die "Bild" berichtet: 3134 Fälle wurden im Oktober entschieden – fast alle endeten mit einer Ablehnung.

Asylentscheidungen bei Syrern: "Jetzt läuft es richtig an"

Michael Brenner hat sich als Anwalt unter anderem auf Migrationsrecht spezialisiert, bei der Bundesrechtsanwaltskammer sitzt er im zuständigen Ausschuss. Was die Zahlen zeigen, spürt er in seiner täglichen Arbeit: "Vor ungefähr einem halben Jahr gab es zunächst Entscheidungen bei syrischen Straftätern. Jetzt läuft es richtig an, dass immer mehr Mandatsanfragen von Syrern kommen."

Brenner erlebt bei den Geflüchteten Irritationen darüber, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) plötzlich aktiv wird, nachdem die Verfahren lange Zeit stillgestanden waren. "Manche sind erschüttert darüber, dass sie den Ablehnungsbescheid erhalten, ohne dass sie zuvor noch einmal angehört wurden", erzählt der Anwalt im Gespräch mit FOCUS online.

Hauptfluchtgrund weggefallen, aber immer noch Abschiebe-Hindernisse

Zwar sei bei vielen der hauptsächliche Fluchtgrund weggefallen: eine Verfolgung durch das Assad-Regime oder die Gefahr, von diesem in die Armee eingezogen zu werden. Zudem sei die Lage in Syrien volatil, aber klarer einzuschätzen. Doch es gebe immer noch viele Einzelfälle, bei denen eine Ablehnung kritisch sei.

Das Bamf hat laut Bericht der "Bild" bei den mehr als 3000 Fällen nur in einem einzigen auf Asyl entschieden. Zehn Syrer wurden als Flüchtlinge anerkannt, neun erhielten subsidiären Schutz, in sechs Fällen wurden Abschiebeverbote erlassen. Brenner vermutet, dass die hohe Ablehnungsquote nur zustande kommt, weil das Bamf eben nicht die Einzelfälle detailliert prüft, sondern einer allgemeinen Weisung der Behördenleitung folgt.

"Bei vielen Syrern wäre wahrscheinlich zumindest ein Abschiebungsverbot angemessen", glaubt Brenner. Das kann es aus zwei Gründen geben: 

  • Entweder, wenn ein Geflüchteter so krank ist, dass eine Abschiebung lebensgefährdende Folgen haben könnte. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn eine Krebserkrankung in Syrien nicht angemessen behandelt werden kann oder die notwendigen Medikamente dort zu teuer sind.
  • Oder, wenn elementare Grundbedürfnisse in dem Zielland nicht befriedigt werden könnten. Nach der derzeitigen Rechtsprechung können die mit der Formel "Bett, Brot, Seife" beschrieben werden. Wenn zum Beispiel das Wohnhaus einer geflüchteten Familie zerstört wurde, oder wenn in Syrien kein Beruf ausgeübt werden kann, der die Ernährung sicherstellt, könnte es ein Abschiebungsverbot geben.

Wadephuls Syrien-Äußerung "wird in Verfahren zu thematisieren sein"

Genau das hatte Außenminister Johann Wadephul bei seiner Syrien-Reise infrage gestellt. Er sei "durch ein völlig zerbombtes Damaskus gefahren", dort gebe es "keine Elektrizität, kein Wasser, kein Abwasser". Der CDU-Politiker erklärte in der Stadt Harasta: "Hier können wirklich kaum Menschen richtig würdig leben."

Johann Wadephul in Syrien
Außenminister Johann Wadephul (CDU) hat bei seinem Syrien-Besuch auf die Zerstörung als Hindernis für eine Rückkehr von Geflüchteten hingewiesen. Marcus Brandt/dpa

Brenner hält diese Äußerungen für "absolut relevant" bei den Asylverfahren: "Wenn der Minister, dessen Haus maßgeblich für die Einschätzung der Lage – auch als Entscheidungsgrundlage für Schutzzuerkennungen durch das Bamf – zuständig ist, so etwas sagt, dann muss das bei den Entscheidungen eine Rolle spielen. Das wird in den Gerichtsverfahren zu thematisieren sein."

Neben den möglicherweise kaum zu erfüllenden Grundbedürfnissen weist Brenner auf weitere Probleme hin: So seien manche Syrien-Flüchtlinge mittlerweile "verwestlicht". Das sei besonders bei denen der Fall, die vor vielen Jahren als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen und hier sozialisiert sind. "Wenn zum Beispiel eine Frau abgeschoben wird, wegen ihrer westlichen Prägung aber kein Kopftuch tragen will, könnte ihr unter den islamistischen Herrschern in Syrien Unheil drohen."

Anwalt rechnet mit Klagewelle von Syrern

Das Bamf geht offenbar nichtsdestotrotz davon aus, dass die hohe Ablehnungsquote auch vor Gericht standhalten könnte. Laut einer Anfrage des BR will die Behörde eine "vorsichtige Tendenz erkennen, dass die bislang befassten Gerichte Klagen gegen ablehnende Entscheidungen abweisen". Brenner kann das aus der Erfahrung seiner Fälle nicht bestätigen. "Ich prophezeie, dass viele Asylentscheidungen als rechtswidrig eingestuft werden."

Ziemlich sicher dürfte aber sein, dass in vielen Fällen die Verwaltungsgerichte das letzte Wort haben werden. "Ich rechne mit einer Klagewelle", sagt Brenner. Auch der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen sieht das so: "Die nun angekündigten Entscheidungen des BAMF werden prognostisch erneut zu einer Steigerung der Verfahrenseingänge an den Verwaltungsgerichten führen", erklärt die Vorsitzende Karoline Bülow auf Anfrage von FOCUS online.

Verwaltungsrichter fordern Unterstützung wegen hoher Belastung

Die Richterin am Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg glaubt, dass die Syrer-Entscheidungen zusammen mit der im kommenden Jahr anstehenden EU-Asylreform die Justiz stark belasten werden. Als nach 2015 die Zahl der Asylverfahren und damit auch die Bearbeitungsdauer schon einmal stark angestiegen war, sei es durch personelle Aufstockungen, organisatorische Maßnahmen und den persönlichen Einsatz der Richter gelungen, wieder Herr der Lage zu werden.

"Um eine erneute Verlängerung der Verfahrenszeiten zu verhindern, ist es zwingend notwendig, dass die Verwaltungsgerichte weiterhin personell gut aufgestellt sind", fordert Bülow. Es sei notwendig, die in den kommenden Jahren absehbaren zahlreichen Pensionierungen von Richtern durch die Gewinnung von Nachwuchskräften auszugleichen.

Darüber hinaus müsse die Digitalisierung im Justizsystem gefördert werden. "Verfahrensdaten müssen besser strukturiert und automatisch aufbereitet werden und die für die Entscheidung in Asylverfahren erforderlichen Erkenntnisse aus den Herkunftsländern müssen einfach und schnell zugänglich sein", betont die Verwaltungsrichterin. "Entsprechende Modelle werden entwickelt, sind aber momentan noch nicht im Einsatz."

Bülow betont, wie wichtig es sei, dass Asyl-Klagen und -Eilanträge schnell entschieden werden. Die hohe Belastung durch diese Verfahren dürfe sich nicht negativ auf die Bearbeitung anderer verwaltungsrechtlicher Klagen auswirken. Denn: "Ein solcher Zustand schadet dem Rechtsstaat."

"Wenn Bamf sich nicht mit Einzelfällen beschäftigt, müssen es Gerichte tun"

Ende Oktober waren laut "Bild" Asylverfahren von 52.881 syrischen Antragstellern offen. Womöglich werden sich die Verwaltungsgerichte mit einem Großteil davon befassen müssen. Anwalt Brenner betont, in welcher Verantwortung er sie sieht: "Wenn das Bamf sich nicht mit Einzelfällen beschäftigt, müssen das die Gerichte tun." Das könnte über ein Jahr dauern, in manchen Fällen auch zwei bis drei Jahre, schätzt er. "Das ist für die betroffenen Syrer belastend. Aber es ist wichtig, dass die Gerichte genau prüfen."

Klar scheint schon jetzt zu sein, dass die Verfahren in naher Zukunft keine massenhaften Abschiebungen nach Syrien zur Folge haben werden. Denn neben den langen juristischen Verfahren besteht nach wie vor ein politisches Hindernis: Bislang hat die Bundesregierung im Gegensatz zu Österreich offenbar noch keinen Deal mit Syrien über Abschiebungen geschlossen.