Russische Sabotage in Europa: Warum ein US-Experte Artikel 4 der Nato als wichtigste Antwort sieht

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US-Experte Benjamin Schmitt spricht sich angesichts mutmaßlicher russischer Sabotageakte für Ausrufung des Nato-Artikels 4 aus. Der greift unterhalb der Schwelle eines Angriffs.

Jeder kennt die Beistandsgarantie der Nato aus Artikel 5 des Vertrages: Ein militärischer Angriff auf ein Mitgliedsland gilt als Angriff auf alle, und alle Mitglieder müssen darauf reagieren. Das ist der sogenannte Bündnisfall. Weniger bekannt ist Artikel 4: Er sieht Beratungen aller Mitglieder über Sicherheitsbedrohungen unterhalb der Schwelle eines kriegerischen Angriffs vor.

Aktuell könnte der Passus nach Ansicht von Benjamin Schmitt, US-Experte für demokratische Resilienz bei der Denkfabrik Center for European Policy Analysis (CEPA), dabei helfen, gemeinsame Antworten auf die wachsende Bedrohung durch hybride Kriegführung zu finden. Und auf Sabotageakte durch Putins Russland gegen die Nato, auch in Deutschland.

„Ich denke, wir haben in einigen Fällen die in diesem Artikel festgelegte Schwelle erreicht“, sagt Schmitt im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. „Es hat so viele Sabotageakte gegen kritische Infrastrukturen in ganz Europa gegeben, ob sie nun jemandem zugeschrieben werden oder nicht. Und wir sehen weiterhin Bedrohungen, für die Offshore-Energieinfrastruktur zum Beispiel.“

Die Feuerwehr löscht einen Großbrand bei der Firma Diehl in Berlin-Lichterfelde
Russische Sabotage? Großbrand bei der Firma Diehl in Berlin-Lichterfelde. Die Firma produziert das auch an die Ukraine gelieferte Abwehrsystem IRIS-T. © Marius Schwarz/Imago

Im Nordatlantik-Vertrag, dem Gründungsdokument der Nato, ist Artikel 4 der kürzeste der insgesamt 14 Artikel. Er besagt ganz knapp: „Die Vertragsparteien konsultieren einander, wenn nach Auffassung einer der Vertragsparteien die territoriale Unversehrtheit, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Vertragsparteien bedroht ist.“ Die bei einer Ausrufung von Artikel 4 gestarteten Diskussionen im Nordatlantikrat – dem wichtigsten politischen Entscheidungsgremium der Nato – können dann zu gemeinsamen Beschlüssen oder Maßnahmen führen.

Artikel 4 der Nato: Siebenmal in Anspruch genommen – auch im Ukraine-Krieg

Während der Bündnisfall-Artikel 5 nur ein einziges Mal ausgerufen wurde – nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die USA – nahmen die Mitglieder seit Gründung der Nato vor 75 Jahren siebenmal Artikel 4 in Anspruch, zuletzt im Februar 2022. Damals ersuchten acht Mitglieder nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine um Konsultationen.

Auch im November 2022 debattierten die Nato-Botschafter bei einem Notfalltreffen über Artikel 4. Damals hatte eine ukrainische Abwehrrakete in Polen nahe der Grenze zur Ukraine zwei Menschen getötet. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte seinerzeit, der Vorfall sei die Schuld Russlands und nicht der Ukraine. Polens damaliger Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erwog damals die Ausrufung von Artikel 4, hielt dies schlussendlich aber nicht für nötig.

Am häufigsten nahm die Türkei Artikel 4 in Anspruch, allein dreimal während des Bürgerkrieges in Syrien. 2014 rief Polen infolge der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim Artikel 4 aus. Nach der Vollinvasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 schlossen sich sieben weitere Nato-Mitglieder Polen an und ersuchten die Nato um Konsultationen gemäß Artikel 4.

Sabotage durch Putins Russland: Nato-Mitglieder spüren Bedrohung

Nun sorgen sich Nato-Mitglieder vor allem im Osten und Norden Europas angesichts der Zunahme von Sabotageakten um ihre Sicherheit. Auch wenn es nicht immer einfach ist, den Urheber zu ermitteln, haben EU-Sicherheitspolitiker und Regierungen mehrerer Mitgliedsstaaten bereits öffentlich den Verdacht geäußert, dass der Urheber mehrerer Akte etwa von Brandstiftung, Vandalismus oder geplanter Aktionen gegen US-Truppen in Europa russische Agenten und ihre Handlanger seien. Doch noch möchte niemand Artikel 4 ausrufen, möglicherweise aus Sorge vor Vergeltungsaktionen Russlands.

Schmitt schlägt daher eine erneute gemeinsame Ausrufung vor, wie 2022. Sorgen hält er für übertrieben. „Wir sprechen ja nicht über eine kollektive militärische Antwort, wir sprechen nicht über Artikel 5. Es geht darum, das Problem auf eine Ebene zu heben, auf der öffentlich anerkannt wird, dass es eine ständige Sicherheitsbedrohung für das gesamte Bündnis gibt – unabhängig davon, ob es um Fragen der nationalen Souveränität geht oder nicht.“ Artikel 4 erlaubt eben eine gemeinsame Reaktion, auch wenn nicht die Existenz ganzer Staaten bedroht ist.

Ob sich ein oder mehrere Nato-Staaten dazu durchringen, Artikel 4 auszurufen, wenn die hybride Bedrohung weiter wächst, ist vorerst völlig offen. Ohne Artikel 4 aber wäre nach Ansicht Schmitts eine kollektive politische Reaktion der Nato schwierig. „Einzelne Regierungen nehmen Sabotage in Bezug auf die Strafverfolgung und die Sicherheit schon sehr ernst. Aber wir müssen sie auch politisch angehen, damit die Öffentlichkeit sieht, dass die Nato diese Vorgänge umfassend anerkennt.“

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