Laut entsprechenden Entschließungen des Bundestages muss die Regierung zur Mitte jeder Legislaturperiode einen Armuts- und Reichtumsbericht vorlegen, was der Ampelkoalition von SPD, Bündnisgrünen und FDP nicht gelungen ist.
Am Mittwoch hat das von CDU, CSU und SPD gestellte Bundeskabinett den Siebten Armuts- und Reichtumsbericht verabschiedet, für den Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) auf Vorarbeiten ihres Amtsvorgängers und Parteifreundes Hubertus Heil zurückgreifen konnte.
Als wichtigstes Ziel einer regelmäßigen Berichterstattung hat der Bundestag vor über einem Vierteljahrhundert die Erfassung der sozialen Ungleichheit durch eine "Analyse der gesamten Verteilung von Einkommen und Lebenslagen" vorgegeben, weil er sich davon genaueren Aufschluss über die Existenzbedingungen von einzelnen Personen und Gruppen versprach.
Gefordert wurde auch, dass der Report nicht zu einem "Zahlengrab" werden dürfe. Offensichtlich legten die Bundestagsabgeordneten damals eher Wert auf strukturelle Zusammenhänge als auf eine Vielzahl statistischer Daten, denn sie verlangten an einer zentralen Stelle des Entschließungsantrages: "Die Berichterstattung muss die Ursachen von Armut und Reichtum darlegen." Weiterhin wurde festgelegt, dass der Regierungsbericht "politische Instrumente zur Vermeidung und Bekämpfung der Armut entwickeln" solle.
Armut wird verharmlost
Man unterscheidet in der Sozialforschung zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut sowie relativer Armut. Die von der Letzteren betroffenen Menschen leider darunter manchmal sogar mehr als unter der absoluten Armut. Das gilt besonders für Kinder, die sich immer mit ihren Altersgenossen im Nahfeld und nicht mit Hungernden im globalen Süden vergleichen.
Wenn ein Jugendlicher hierzulande im tiefsten Winter in Sommerkleidung und Sandalen auf dem Pausenhof seiner Schule steht und von den eigenen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden ausgelacht wird, ist das für ihn wahrscheinlich schlimmer als die Kälte, von der er befallen wird.
Die herrschende Verteilungsschieflage wird verharmlost, wenn man Armut auf das Elend von Menschen in Entwicklungsländern verkürzt, um sich dem Problem bei uns nicht stellen zu müssen.
Wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, gibt es in Deutschland, das von absoluter Armut nicht frei, sondern heute vielleicht stärker als je seit der unmittelbaren Nachkriegszeit betroffen ist, mittlerweile 1.029.000 Wohnungslose, die bei Freunden und Bekannten oder in Notunterkünften nächtigen, sowie 56.000 Obdachlose, die auf der Straße leben.
Einkommensarmut und Altersarmut
Verharmlosend wirkt auch der Begriff "armutsgefährdet", den die Bundesregierung favorisiert, weil es sich bei einem Monatseinkommen von weniger als 1.381 Euro (60 Prozent des mittleren Einkommens) für einen Alleinstehenden schlicht um Einkommensarmut handelt. Denn in aller Regel muss davon ja noch Miete gezahlt werden, was in einer deutschen Groß- oder Universitätsstadt bedeutet, dass kaum noch Geld zum Leben übrigbleibt.
Mit der Altersarmut beschönigt der Regierungsbericht ein künftig noch wachsendes Problem: "Im letzten Fünf-Jahres-Zeitraum von 2017 bis 2021 waren nur sechs Prozent der Menschen in der sozialen Lage 'Armut' über 64 Jahre alt. Dementsprechend war auch der Anteil der Über-65-Jährigen, die in der sozialen Lage 'Armut' sind, mit 11,9 Prozent unterdurchschnittlich."
Senior(inn)en bilden jedoch die Altersgruppe, deren Armutsrisiko seit vielen Jahren am stärksten steigt. Durch eine radikale Rentenreform, nach der immer häufiger gerufen wird, dürfte sich die Altersarmut kaum verringern, sondern eher verstetigen.
Verschleierung des Reichtums
Für die Bundesregierung beginnt Einkommensreichtum bei einem monatlichen Nettoeinkommen von weniger als 5.000 Euro (Reichtumsschwelle des zweifachen Medianeinkommens nach unterschiedlichen Datenquellen) und Vermögensreichtum bei einem nach Preisen von 2017 berechneten Nettovermögen von 500.000 Euro.
Ist es nicht kurios, dass der Regierungsbericht einen Oberstudienrat wegen seines monatlichen Nettogehalts von rund 4.500 Euro für einkommensreich und den Besitzer einer kleinen Eigentumswohnung in attraktiver Großstadtlage für vermögensreich erklärt?
Dazu passt, dass nicht bloß eine leichte Abnahme der Ungleichverteilung von privaten Nettovermögen im Zeitraum zwischen 2010/11 und 2023 festgestellt, sondern statt des Gegensatzes von Kapital und Arbeit der soziale Gegensatz zwischen Mieter(inne)n und Vermietern von Wohnungen herausgehoben wird: "Eigentümer ohne Hypotheken verfügen über ein durchschnittliches Nettovermögen von knapp 700.000 Euro, Eigentümer mit Hypotheken über etwa 530.000 Euro. Dem gegenüber haben Mieter ein durchschnittliches Nettovermögen von knapp 100.000 Euro."
Obwohl es auch zu den Aufgaben der Armuts- und Reichtumsberichterstattung gehört, Handlungsempfehlungen zu geben, hält sich das Regierungsdokument in dieser Hinsicht vornehm zurück. Bezüglich der starken Vermögenskonzentration in Deutschland sieht die Bundesregierung keinen Grund für gesetzliche Eingriffe. Vielmehr werden die Bürger/innen von ihr beruhigt und beschwichtigt: "Nach wie vor besitzen die zehn Prozent der vermögendsten Haushalte 54 Prozent des gesamten Nettovermögens. 2010/11 waren es noch 59 Prozent." Unerwähnt bleibt, dass 3.300 Menschen in Deutschland mehr als 100 Millionen Euro besitzen und es über 250 Milliardäre gibt, die trotz einer stagnierenden Wirtschaft immer reicher werden.
Selbstbeweihräucherung statt Berichterstattung
Offenbar begreift die Bundesregierung ihren Armuts- und Reichtumsbericht als Erfolgsbilanz statt als Problemaufriss. Es grenzt schon an Selbstbeweihräucherung, wenn man sich einen Sieg im Kampf gegen die Energiepreisexplosion und die Inflation bescheinigt oder bescheinigen lässt: "In den vergangenen Jahren wurde durch das entschlossene Handeln der Bundesregierung mit zielgerichteten Entlastungsmaßnahmen dafür gesorgt, dass die wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Folgen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine effektiv abgefedert werden konnten."
Die seinerzeit beschlossenen Entlastungspakete richteten sich jedoch überwiegend an Unternehmen und Erwerbstätige, während Arbeitslose und Rentner/innen kaum berücksichtigt wurden, obwohl sie steigende Preise viel stärker unter Druck setzen.
Millionen Menschen im Transferleistungsbezug, darunter allein über 500.000 Alleinerziehende und ihre Kinder, trifft die Tatsache besonders hart, dass die Lebenshaltungskosten seit der Covid-19-Pandemie immer neue Höhen erreichen.
Zusammenfassung und Schlussfolgerung
Anstatt die Bürger/innen für das Problem der wachsenden Ungleichheit zu sensibilisieren, beschönigt der Regierungsbericht die soziale Lage eines Großteils der Bevölkerung und verwirrt seine Leserschaft außerdem durch eine Unmenge mehr oder weniger informativer Statistiken, Tabellen und Schaubilder.
Sehr viel übersichtlicher, klarer gegliedert und aussagekräftiger ist der jährliche Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Dieser verzichtet leider auf eine Darstellung des Reichtums, die man alljährlich im Manager Magazin findet. Dort wird auch kein Hehl daraus gemacht, dass die Ungleichheit in Deutschland wächst, und erklärt, warum eine Liste der reichsten Deutschen notwendiger denn je ist: "Vermögen bedeutet Macht. Und Macht muss in einer Demokratie Kontrolle erdulden." Man könnte noch hinzufügen: Aus großem (Kapital-)Vermögen erwachsende Macht muss auch eingeschränkt und zurückgedrängt werden.
Über den Autor
Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Mitglied im Wissenschaftlichen Gutachtergremium für den Siebten Armuts- und Reichtumsbericht, hat zuletzt die Bücher "Deutschland im Krisenmodus" sowie "Umverteilung des Reichtums" veröffentlicht. Er war Politik-Professor in Köln und kandidierte 2017 für die Linke für das Amt des Bundespräsidenten.