Das Statistische Bundesamt hat die Berechnungsgrundlage für die Armutsgefährdungsquote umgestellt. Statt des MZ-Kern (Mikrozensus Kernprogramm) kommt nun der MZ-SILC (Statistics of Income and Living Conditions) zum Einsatz, um die europäischen Vorgaben besser zu erfüllen und die Vergleichbarkeit zu erhöhen.
MZ-SILC als neue Basis
MZ-SILC eignet sich aufgrund seiner Erhebungsweise besonders gut für EU-weite Vergleiche. Zahlungen wie Kindergeld, BAföG, Pflege- oder Wohngeld und andere Einkünfte, die nichts mit Erwerbsarbeit zu tun haben, werden detaillierter erfasst. Statt bloß grober Einkommensklassen werden die Angaben in Euro abgefragt, was insgesamt zu präziseren Daten führt. Allerdings ist die Stichprobe kleiner als beim MZ-Kern, weshalb Auswertungen nach unterschiedlichen sozioökonomischen Merkmalen statistisch unsicherer ausfallen können.
Heftige Kritik im Protestbrief
30 Armutsforscher wandten sich in einem Protestbrief an das Statistische Bundesamt und fordern, die alte Berechnung weiterhin regelmäßig zu veröffentlichen. Sie bezeichnen das Vorgehen als "denkbar unwissenschaftlich" und sprechen von "bereits an behördliche Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichem und öffentlichem Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschnitten werden. Oder in eine bestimmte Richtung gelenkt werden sollen?"
Dabei schrecken die Unterzeichner nicht vor der empörten Behauptung zurück, die Daten seien rückwirkend gelöscht worden. Doch das entspricht nicht den Tatsachen. Alle bisherigen Daten – vollständig von 2005 bis 2023 – sind weiterhin öffentlich zugänglich. Zudem wird kritisiert, dass über Nacht "1 Millionen armutsgefährdete Menschen verschwunden" seien.
Beschäftigt man sich jedoch näher mit den statistischen Grundlagen der Methoden, so drängt sich die Vermutung auf, dass diese Menschen wahrscheinlich nie real existent gewesen sind, sondern lediglich ein Ergebnis verzerrter Erhebung im MZ-Kern. Ein Vorwurf der "Unwissenschaftlichkeit" oder gar "Einschränkung wissenschaftlicher Freiheit" lässt sich in diesem Zusammenhang objektiv nicht belegen.
Armutsbegriff und der EU-Indikator AROPE
Der Indikator „Armutsgefährdungsquote“ ist umstritten, da „Armut“ im umgangssprachlichen Sinne etwas anderes bezeichnet als die statistische Armutsgefährdung. Das Statistische Bundesamt stellt deshalb auch den EU-weit einheitlichen AROPE-Wert bereit, der zusätzlich misst, was sich Menschen tatsächlich leisten können und inwieweit sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Weiterhin haben meine Statistiker-Kollegen schon 2012 in der "Unstatistik des Monats" darauf hingewiesen, dass eine bundesweit einheitliche Bezugsgröße für die Armutsgefährdung problematisch ist: Wer beispielsweise in Thüringen lebt, wird dabei mit demselben Wert verglichen wie jemand aus dem Münchner Umland, wo die Einkommen weit höher ausfallen. Nach der Umstellung durch das Statistische Bundesamt orientieren sich die Berechnungen der Armutsgefährdungsquote nach MZ-Kern am jeweiligen Landesmedian. Und das mit gutem Grund.
Denn es ist weitaus aussagekräftiger, die regionalen Armutsgefährdungsquoten an Bezugsgrößen auszurichten, die die unterschiedlichen Lebensrealitäten in den einzelnen Bundesländern abbilden. Und nicht an einem bundesweit einheitlichen Mittelwert, der für niemanden so richtig passt. .
Kontroversen um Vergleichbarkeit
Die PR-Agentur GKS Consult will laut eigener Webseite "Themen sichtbar machen". Das ist gelungen. Sie hat den Protestbrief veröffentlicht und es damit in praktisch alle Medien geschafft. Und zwar, indem sie behauptet, wichtige Vergleiche seien nicht mehr möglich, weil die Armutsquoten aus dem MZ-Kern nach dem Bundesmedian rückwirkend gelöscht worden seien.
Das ist falsch - die Daten sind nach wie vor auf dem amtlichen Statistikportal zu finden. Auffällig ist, dass der ehemaliger Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, für eben jene PR-Agentur tätig ist und den Brief als Erstunterzeichner unterstützt. Im Protestbrief heißt es zudem: "Selbstverständlich kann man, so wie die Fachleute Ihres Hauses [des Statistischen Bundesamts], der Ansicht sein, dass die Einkommenserfassung bei EU-SILC der beim MZ-Kern methodisch überlegen ist, doch ist diese Meinung speziell unter dem Aspekt der Berechnung von Einkommensarmut in der Fachwelt nicht ungeteilt."
Recherchen zeigen jedoch, dass ausgerechnet der Paritätische Wohlfahrtsverband unter Schneiders Nachfolger für seine Vergleiche im aktuellen "Armutsbericht" auf die Daten gemäß MZ-SILC umgestellt hat: Mit der Begründung, dass MZ-SILC methodisch sinnvoller sei, da die verpflichtende Teilnahme und die detailliertere Einkommenserfassung für zuverlässigere Zahlen sorgen. Wer trotzdem skeptisch bleibt, der könnte die alte Armutsgefährdungsquote nach Bundesmedian aus den veröffentlichten Statistiken rekonstruieren. Warum die Unterzeichner des Protestbriefs nicht von selbst auf diese Idee kommen, bleibt offen.
Anhaltende Diskussion um die Daten
Ein weiterer Kritikpunkt stammt vom Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge - und wirft viele Fragen auf. Butterwegge behauptet in einem Beitrag von ZDFheute, die neue Methode würde verschleiern, dass seit der Corona-Pandemie die "Armut gestiegen, nicht gesunken" sei. Doch auch hier sprechen die Daten eine ganz andere Sprache.
Tatsächlich zeigt ausgerechnet die neue Methode MZ-SILC von 2023 auf 2024 einen Anstieg der Armutsgefährdungsquote um 1,1 Prozentpunkte. Die alte Methode MZ-Kern wiederum weist aktuell einen leichten Rückgang von 0,2 bis 0,3 Prozentpunkten auf - und eine kontinuierlich sinkende Armutsgefährdung seit 2021.
Wenn man also davon ausgeht, dass Armut und Ungleichheit in Deutschland über die letzten Jahre zugenommen haben, dann gilt zweifellos: Einen verzerrten Blick auf die Entwicklung der Armut in Deutschland liefert nicht die neue Methode - sondern vielmehr die alte, die die Unterzeichner des Protestbriefes so gerne zurück hätten.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.