Der irre Weihnachts-Kaufrausch offenbart, was wir kollektiv verlernt haben

Gerade wieder offenbarte sich unsere Gegenwart in ihrer maßlosen Widersprüchlichkeit. In der besinnlichsten Zeit des Jahres, wenn die Lichterketten funkeln, die Werbebanner glühen und Milliarden in Minuten den Besitzer wechseln, wird nicht nur gekauft, sondern entblößt und enthüllt, wer wir geworden sind. 

Die Vorweihnachtszeit ist längst keine stille Zeit mehr, sondern eine rabattsatte Parade unserer innersten Sehnsüchte. Das Weihnachtsgeschäft ist keine bloße Einkaufsphase, sondern ein psychologisches Spiegelkabinett. Eine Bühne, auf der sich Bequemlichkeit, Begierde, Kurzsichtigkeit und kollektive Selbsthypnose zu einem Spektakel verdichten, das uns vorgaukelt, wir seien klug, schnell und vorne dabei. In Wahrheit aber zeigt sich hier das nackte Gegenteil.

Beim Weihnachtsshopping überwiegt selten die Vernunft

Denn was kaufen wir da eigentlich? Dinge, die wir über das Jahr vermisst haben? Geschenke, die echten Wert transportieren? Oder greifen wir zu, weil es da draußen leuchtet, lockt und drängt? Weil ein Countdown tickt, weil jemand behauptet, es sei jetzt oder nie? Weil wir Angst haben, etwas zu verpassen, das wir ohne diese Tage niemals vermisst hätten? Die meisten kennen die Antwort, auch wenn sie sie ungern aussprechen.

Das Weihnachtskaufverhalten spricht nur selten zur Vernunft, sondern meist zum limbischen System: Der Reiz des Sonderangebots, die inszenierte Verknappung, das emotionale Zuckerbrot aus Rabatt und Zeitdruck. All das trifft uns nicht im Intellekt, sondern tief im archaischen Zentrum unserer Triebe. Es ist der Moment, in dem nicht der Bedarf das Handeln bestimmt, sondern das Gefühl, dass dieses eine Ding, dieser eine Klick, dieses eine Paket unser Weihnachtsfest retten oder unser Leben verändern könnte. 

Für einen Moment sind wir Jäger, für einen Wimpernschlag Königinnen und Könige des Konsums. Danach kommt der verdrängte Kater: mit Retouren, Reue, überzogenen Budgets und vielen Geschenken, die niemand braucht. Und die hart trainierte Gedankenlosigkeit geht weiter.

Wir haben verlernt, zwischen Wunsch und Bedürfnis zu unterscheiden

Doch die wahre Tragik liegt tiefer. Das Weihnachtsgeschäft ist kein Ausnahmezustand, sondern ein mentales Symptom. Es zeigt uns eine Gesellschaft, die kollektiv verlernt hat, zwischen Wunsch und Bedürfnis zu unterscheiden. Die glaubt, Besinnlichkeit lasse sich in Paketen verschicken. Die ihre Gegenwart mit Kartons füllt und ihre Zukunft leer kauft. Wer sich in diesem Rausch verliert, wird nicht betrogen, sondern sie oder er betrügt sich selbst.

Und wer behauptet, Opfer zu sein, verkennt, dass es in der Konsumgesellschaft keine Zwangsverhältnisse gibt. Niemand zwingt uns zu kaufen. Niemand nimmt uns das Maß. Niemand verbietet uns die Vernunft. Wir sind Täter. Und genau deshalb beginnt Veränderung nicht bei Amazon, sondern bei uns.

Denn das Weihnachtsgeschäft ist auch das Echo unserer Lebensweise. Jedes Paket ist eine Entscheidung. Jedes Produkt, das mit der Illusion von Notwendigkeit gekauft wird, sendet ein Signal. An die Märkte, an die Algorithmen, an die Wertschöpfungsketten. Wer glaubt, sein Klick sei bedeutungslos, irrt. Es ist ein Stimmzettel für das, was wir fördern: Wegwerfkultur, Lieferlogik, Ressourcenabbau. Und auch wenn wir das in der Euphorie des Moments ausblenden, alles wird knallhart mitgezählt. Nicht von irgendeiner Plattform, sondern von der Zukunft selbst.

Die Gelegenheit, sich selbst zu hinterfragen

Natürlich kann man klug und sinnvoll kaufen. Natürlich kann man Qualität zum guten Preis finden, wenn man weiß, was man braucht. Wenn man vorbereitet ist, vergleicht, abwägt. Doch diejenigen, die sich in den Weihnachts-Kaufrausch stürzen, die sich treiben lassen vom digitalen Gewitter aus Prozenten, Pfeilen, Emotionen und falschen Dringlichkeiten, sind keine Konsumenten mehr, sondern Lemminge.

Die Frage ist nicht, ob wir schenken oder kaufen, das wäre Unsinn. Die Frage ist, ob wir entscheiden oder entschieden werden. Wollen wir uns weiter verführen lassen von einer allesfressenden Logik, die uns kurzfristig stimuliert und langfristig erschöpft? Oder wagen wir den Bruch mit einem Reflex, der uns mehr kostet, als wir glauben?

Das Weihnachtsgeschäft ist der Testlauf für eine extrem herausfordernde Zukunft, in der wir zwischen Gewohnheit und Bewusstsein wählen müssen. Der größte Rabatt dieser Wochen ist nicht der Preisnachlass im Warenkorb, sondern die Gelegenheit, sich selbst zu hinterfragen: Wozu dieses Produkt? Wozu dieser Rausch? Wozu dieser Moment?

Die Zukunft beginnt nicht mit einem Klick, sondern mit einem Gedanken davor.

Als Soziologe forscht Thomas Druyen seit 30 Jahren die psychologischen Auswirkungen von Wandel und leitet zwei Institute an der Sigmund Freud Universität in Wien. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.