Warum ein einziges Wort die Stimmung in Deutschland kippen kann

Sprache ist selten neutral. Worte sind mehr als Information – sie formen Wahrnehmung, erzeugen Emotion und strukturieren Denken. In der Neurowissenschaft spricht man von Hebbian Learning: Neuronen, die gemeinsam feuern, vernetzen sich stärker. 

Je häufiger bestimmte Begriffe mit positiven oder negativen Emotionen gekoppelt werden, desto stabiler wird ihre Bedeutung im Gehirn. Sprache schafft Realität – nicht nur im Kopf des Einzelnen, sondern in ganzen Gesellschaften.

Dr. Frederik Hümmeke ist ein renommierter Verhaltens- und Kultur-Philosoph und gilt als gefragter Business Coach in Europa. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Der Streit um Worte

Zwei aktuelle Beispiele finden sich allein in den letzten paar Wochen: Zuerst wurde das Wort „Zwangsbeitrag“ kritisiert. Kurz darauf entbrannte eine Debatte um das „Stadtbild“. Beide Begriffe haben in den letzten Wochen für erhebliche Erregung gesorgt. 

„Zwangsbeitrag“ wurde von Kommentatoren wie Georg Restle oder Hanno Kesting als „propagandistisch“ oder gar „demokratiefeindlich“ kritisiert. Noch vor wenigen Jahren verwendeten etablierte Medien denselben Begriff gänzlich unbefangen – als sachliche Beschreibung einer Pflichtabgabe, die jeder Bürger zu entrichten hat, ob er das Angebot nutzt oder nicht.

Noch immer ziemlich neu, aber quasi von 0 auf 1 eingestiegen in die Rangliste der Reizwörter, ist das von Bundeskanzler Friedrich Merz ins Rennen geschickte „Stadtbild“. Ein an sich völlig neutraler Begriff, der jedoch durch die politische Diskussion um das, was inhaltlich mit dem Begriff überhaupt gemeint sein könnte, eine ganz neue Bedeutungsebene erfahren hat. Wofür steht „Stadtbild“ – und wofür steht es gerade nicht?

Der Kanzler hat die Beantwortung dieser Frage so lange offengelassen, dass sich in der Zwischenzeit Gegner und Befürworter bereits ihre eigenen Meinungen gebildet und sich mitsamt diesen Meinungen fest in ihren Lagern verschanzt haben. Inzwischen reicht allein die Nennung des Begriffs, um die Gesellschaft zu spalten wie Moses das Rote Meer.

Stress und Gruppendynamik

Worte werden heute zu Reizsignalen. Das zeigt, wie mächtig Framing wirkt – aber auch, wie sehr Sprache Teil sozialer Stressregulation geworden ist.

Schauen wir noch einmal auf „Zwangsbeitrag“. Wer den Begriff „Zwangsbeitrag“ wählt, widerspricht der gewünschten beziehungsweise sozial erwünschten Deutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als gemeinwohlorientierte „Demokratieabgabe“. Letztere Formulierung klingt positiv, fast edel – und schließt Kritik implizit aus. Wer sich gegen eine „Demokratieabgabe“ wendet, stellt sich quasi – nicht nur linguistisch – gegen die Demokratie selbst, so der implizite Vorwurf.

So ist es kein Wunder, dass der Begriff in manchen Menschen eine biologische Stressreaktion auslöst. Im limbischen System greift der bekannte Mechanismus der „4 F“: fight, flight, freeze, flock. Diese Reaktion wird nicht nur individuell, sondern auch kollektiv ausgetragen – oft vor allem mit „fight“, in Form von Schuldzuweisungen und weiteren verbalen Angriffen.

Ähnlich gelagert ist der Fall beim Begriff „Stadtbild“. Hier fehlt zwar ein offensichtlich ablehnender Wortbestandteil wie „Zwang“ in „Zwangsbeitrag“, doch seine Wirkung entsteht auf einer anderen Ebene: durch die Bedeutungsschichten, die unausgesprochen, offensichtlich oder angeblich mitschwingen, und durch die Zuschreibungen, die jede Gruppe der jeweils anderen auferlegt.

Das Wort wird so zum Projektionsraum kollektiver Empfindungen. Gehört wird nicht mehr die ursprüngliche neutrale Bedeutung, sondern ein wildes Konglomerat aus politischen Präferenzen, die dem Sprecher zugewiesen werden.

Genau wie beim „Zwangsbeitrag“ oder seinem Gegenstück, der „Demokratieabgabe“, kreiert der reine Sprechakt In-Group- und Out-Group-Dynamiken. Die In-Group bestätigt sich gegenseitig in ihrer (teils hochkreativen) Deutung; das gemeinsame Empfinden schafft Zugehörigkeit und emotionale Entlastung. Die Out-Group dagegen wird moralisch markiert – als „die anderen“, die „es nicht verstehen“ oder sogar als diejenigen, die es absichtlich machen, und zwar aus böser Absicht natürlich. Sprache wird so zu einem Signal sozialer Identität. Begriffe dienen dann weniger der sachlich-inhaltlichen Verständigung als der Abgrenzung.

Diese Prozesse geschehen nicht bewusst. Sie sind Ausdruck eines sehr menschlichen Bedürfnisses nach Sicherheit und Kontrolle in einem komplexen Kommunikationsraum. Doch sie haben eine gefährliche Nebenwirkung: Sie verengen die Wahrnehmung und verhindern inhaltliche Auseinandersetzung.

Framing als mentales Immunsystem

Begriffe mit einer Bedeutung aufzuladen oder schon aufgeladene Begriffe dann bewusst rhetorisch zu nutzen, nennt man Framing. Aus neurowissenschaftlicher Sicht wirkt dieses Framing wie ein mentales Immunsystem für die, die es benutzen. Es schafft semantische, also sprachliche Barrieren, die Kritik reflexhaft abwehren. Das Gehirn lernt, dass bestimmte Begriffe moralisch aufgeladen sind, und lehnt sie – wegen der negativen Aufladung – reflexhaft ab, also ohne wirklich tiefer darüber nachdenken zu müssen.

Wer sie infrage stellt, erscheint als Bedrohung – nicht als Diskurspartner. Reformunfähigkeit wird so neurologisch eintrainiert.

Diese Mechanismen werden auch gezielt eingesetzt. Das Framing Manual des Berkeley International Framing Institute etwa rät dazu, nie den Frame der Gegner zu verwenden, sondern die eigenen moralischen Begriffe immer wieder zu wiederholen – bis sie selbstverständlich wirken. Wiederholung schafft neuronale Stabilität. Sprache verändert Synapsen – und damit unsere Interpretation der Wirklichkeit, die wir wahrnehmen.

Wenn Worte Reform verhindern

Wenn Begriffe wie „Demokratieabgabe“ oder „Solidaritätsbeitrag“ moralische Unantastbarkeit suggerieren, wird jede inhaltliche Reform zum Tabu. Das Thema darf nicht mehr zum Thema werden; wer das Tabu anspricht, der wird schon allein dafür pauschal kritisiert bis dämonisiert.

Wer über Effizienz, Transparenz oder Strukturprobleme sprechen will, steht unter Verdacht, die Demokratie selbst zu gefährden. Doch Kritik ist kein Angriff auf Demokratie – sie ist ihr Lebenszeichen. Ohne Diskurs keine Anpassung, ohne Anpassung keine Entwicklung.

Vom Wort zum Inhalt

Hier liegt der Kern der Herausforderung: Wir dürfen nicht bei der moralischen Bewertung einzelner Worte stehen bleiben. Sprache ist ein Spiegel gesellschaftlicher Prozesse, kein Schlachtfeld für Schuldzuweisungen. Wenn ein Wort Stress auslöst, zeigt das weniger etwas über das Wort selbst, sondern über das Vertrauen, das zwischen Gruppen fehlt – und den Bedarf, sich mehr auf der zwischenmenschlichen Ebene zu begegnen.

Statt Worte zu tabuisieren, brauchen wir eine Rückkehr zum inhaltlichen Diskurs – zu These, Antithese und Synthese. Nur wenn wir uns über die Bedeutung hinter den Worten verständigen, können wir echte gesellschaftliche Verständigung erreichen.

Worte als neuronale Infrastruktur

Sprache ist keine Dekoration der Wirklichkeit, sondern ihre neuronale Infrastruktur. Wer die Bedeutung von Worten verändert, verändert die Wahrnehmung – und damit auch die Möglichkeiten des Denkens. Doch genau deshalb sollten wir Sprache nicht als Waffe, sondern als Werkzeug der Aufklärung begreifen.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk – wie jede Institution – könnte durch Offenheit und Selbstkritik an Vertrauen gewinnen. Durch sprachliche Selbstimmunisierung verliert er es.

Dass die Diskussion um „Stadtbild“ so aus dem Ruder laufen konnte, ist viel mehr dem latenten gesellschaftlichen Stress und Konflikt zum Thema Migration zuzuschreiben als der Wortverwendung an sich. Klar, ein zu weiter Interpretationsraum, den Merz offengelassen hat, machte die Diskussion erst möglich. Trotzdem musste sie nicht zwingenderweise entstehen – und ohne einen Stressor im Hintergrund wäre dieser Teil der Rede weitgehend ignoriert worden. Blöd ist nun auf gesellschaftlicher Ebene, dass wir uns mehr über die Wortverwendung aufregen, als dass wir uns damit beschäftigen, wie wir das unterliegende Thema lösen und den Stressor aus der Gesellschaft bekommen. Achtung: Lassen Sie sich nicht triggern! Der Stressor ist das unterliegende Problem – der Konflikt, der durch unterschiedliche Meinungen zur Ausgestaltung der Gesellschaft entstanden ist – und keine individuellen Personen.

Beide Beispiele zeigen: Worte sind wichtig. Sie sind keine beliebig formbaren Werkzeuge, sondern neuronale Programme, die unser Weltmodell strukturieren – und uns so teils auf falsche Fährten führen.

Wenn wir wollen, dass Demokratie lebendig bleibt, müssen wir zulassen, dass auch ihre Bestandteile diskutiert werden dürfen. Wenn wir weniger in Chiffren sprechen, die beliebig interpretiert werden können, und gleichzeitig aufhören, allein für Wortverwendungen anzuklagen, dann kommen wir gesellschaftlich viel weiter. Eine klare Benennung dagegen ist keine Bedrohung – sie ist die Voraussetzung für Verständigung. Denn: Ein Zwangsbeitrag bleibt ein Zwangsbeitrag – und ein freier Diskurs bleibt die Grundlage jeder Demokratie.

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  • Frederik Hümmeke

    Bildquelle: Frederik Hümmeke

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