Herbst 1945: Der Zweite Weltkrieg in Europa ist mit der Kapitulation Deutschlands vom 8. Mai seit einigen Monaten beendet. Eine Reihe hochrangiger Nazi-Funktionäre wurde von den alliierten Siegermächten gefangengenommen und zunächst im Camp Ashcan in Luxemburg und dann in Nürnberg inhaftiert.
Hier, in der einstigen „Stadt der Reichsparteitage“, sollen sie vor ein internationales Kriegsverbrechertribunal gestellt werden. Unter den Gefangenen ist auch Hermann Göring, einst der zweite Mann des Dritten Reiches.
Einer der schlimmsten Verbrecher, SS-Chef Heinrich Himmler, der zuständig war für die Vernichtungs- und Konzentrationslager, in denen Millionen Menschen umkamen, hat sich umgebracht, als er auf der Flucht enttarnt wurde.
Auch Adolf Hitler war zu feige, sich einem Tribunal zu stellen und schied gemeinsam mit seiner frischangetrauten Gattin Eva Braun am 30. April aus dem Leben, indem er sich eine Kugel in den Kopf jagte.
Einer schürt Zweifel an der Todesnachricht
So hat es am 1. Mai der deutsche Rundfunk gemeldet, allerdings mit der falschen Behauptung, der „Führer“ sei im Kampf gefallen. Und diese Nachricht von seinem Tod glauben die Amerikaner und Briten, sowohl die Regierungen wie die Militärs und auch die Öffentlichkeit.
So bringt das „Time Magazine“ am 7. Mai auf dem Titelbild ein Foto, auf dem Hitlers Kopf zu sehen ist – durchgestrichen mit zwei dicken blutroten Strichen. Doch einer schürt Zweifel an dieser Todesnachricht: der sowjetische Diktator Josef Stalin. Er lässt im Herbst 1945 die Gerüchteküche brodeln – mit erstaunlichem Erfolg.
Stalin, der 1939 bis 1941 Hitlers Verbündeter war und einen Teil Polens besetzt hat, ehe die Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, hat dafür gleich zwei Gründe. Zunächst will er Unsicherheit und Zwietracht unter den westlichen Regierungen und in der Öffentlichkeit der westlichen Länder schüren.
Zweitens kann in seinen Augen nicht sein, was nicht sein darf. Er weigert sich schlicht zu glauben, dass Hitler einfach so aus dem Leben geschieden sei. Und wenn doch, dann durfte er sich wenigstens nicht erschossen, sondern feige mit Gift umgebracht haben. Der Sowjetführer lässt seine Experten daran arbeiten, das zu „beweisen“.
Sowjetische Propaganda bleibt stringent bei ihrer Behauptung
Zweifel an der offiziellen Todesmeldung schürt die amtliche sowjetische Nachrichtenagentur TASS schon einen Tag später. Am 2. Mai bezeichnet sie sie als „neuen Faschistentrick“. Weiter heißt es: „Durch die Verbreitung von Meldungen über Hitlers Tod hoffen die deutschen Faschisten offensichtlich, Hitler die Möglichkeit zum Abtritt von der politischen Bühne zum Verschwinden zu geben.“
Die sowjetische Propaganda bleibt stringent bei dieser Behauptung und im Laufe des Sommers und Herbstes 1945 bleibt das nicht ohne Wirkung. Noch waren die USA und Großbritannien auf der einen Seite und die Sowjetunion auf der anderen offiziell Partner, aber der beginnende Kalte Krieg schürt mehr und mehr das Misstrauen zwischen ihnen.
Auf der Konferenz von Potsdam, auf der vom 17. Juli bis 2. August Stalin, der neue US-Präsident Harry S. Truman, sowie für die Briten erst der Kriegspremier Winston Churchill und dann sein Nachfolger Clement Attlee über die Zukunft Deutschlands verhandeln, steckt Truman seinem sowjetischen Widerpart, dass die USA über die erste Atombombe verfüge (,die sie am 6. August über Japan abwerfen wird). Aber auch Stalin hat eine Spitze parat: Adolf Hitler sei keineswegs tot, sondern am Leben.
Stalin lässt nicht locker
Das Problem aus Sicht der westlichen Politiker: Die Sowjets verfügen über die sterblichen, stark verkohlten Überreste der Leichen von Hitler, Eva Braun sowie der Familie Goebbels aus dem Führerbunker. Sie sind nach den Suiziden im Garten der Berliner Reichskanzlei verbrannt worden, was jedoch nicht vollständig gelungen war.
Stalin lässt nicht locker. Im Im September beschuldigt er die Briten, sie hätten Hitler und Eva Braun in ihrer Besatzungszone versteckt, „wahrscheinlich, um sie irgendwann gegen ihre russischen Verbündeten zu verwenden.“
Eigentlich glauben die westlichen Regierungen nicht an die Behauptung Stalins, aber der Keim der Unsicherheit ist gesetzt. Tatsächlich beginnen im Sommer weltweit Geheimdienste und Polizeibehörden, nach dem angeblich untergetauchten Hitler zu suchen.
Selbst das amerikanische FBI beteiligt sich an der Suche, nachdem sein Chef J. Edgar Hoover eine Meldung bekommen hat, Hitler sei mit einem U-Boot geflohen und halte sich auf einer Ranch in Argentinien auf. Und auch in den Medien wird immer häufiger spekuliert, der „Führer“ könne vielleicht doch überlebt haben und untergetaucht sein.
Es besteht „Grund zu der Annahme, dass Hitler lebt“
Schließlich werden die Amerikaner immer unsicherer. Am 6. Oktober tritt der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen in Europa, der spätere US-Präsident Dwight D. Eisenhower während eines Besuches in den Niederlanden vor die Presse und sagt, dass, obwohl er Hitler zunächst für tot gehalten hat, jetzt „Grund (bestehe) zu der Annahme, dass er lebt.“ Stalins Saat ist aufgegangen.
Nun entschließen sich die Briten, der Sache systematisch auf den Grund zu gehen. Sie beauftragen den jungen Nachrichtenoffizier des Geheimdienstes Secret Intelligence Service (MI 6), H.R. Trevor-Roper mit einer eingehenden Untersuchung. Er interviewt Zeugen und sammelt alle erdenklichen Hinweise.
Allerdings kann er nur auf eine einzige direkte Zeugin zugreifen, und das auch nur indirekt; die berühmte Testpilotin und Trägerin des Eisernen Kreuzes I. und II Hanna Reitsch.
Die glühende Hitler-Verehrerin hat den „Führer“ in den letzten Stunden vor seinem Selbstmord mit einem spektakulären Flug im Bunker besucht und war gegen ihren Willen auf sein Geheiß hin noch gerade rechtzeitig vor der Kapitulation Berlins geflohen.
Reitsch weist Gerücht zurück: „Hitler ist tot“
Reitsch hat zwar wenige Stunden vor dem Selbstmord den Bunker wieder verlassen, aber daran, dass Hitler rein körperlich gar nicht mehr in der Lage gewesen sei, eine Flucht zu unternehmen, lässt sie keinen Zweifel.
In einer Befragung durch einen amerikanischen Geheimdienst-Offizier (das US-Militär hattsie interniert) zeigt sie sich ebenso überzeugt, dass er auch gar nicht mehr habe weiter leben wollen.
Das damals kursierende Gerücht, sie selbst habe ihn aus Berlin herausgeflogen, weist sie empört zurück und sagt: „Hitler ist tot“. Trevor-Roper darf nicht persönlich mit Reitsch reden, bekommt aber das lange Vernehmungsprotokoll zugeschickt.
Nach monatelangen Recherchen kommt der Brite, der später ein anerkannter Historiker wird, zu dem Ergebnis, dass an Stalins Gerüchten nichts dran ist. Er schreibt einen entsprechenden Bericht, der aufgepeppt 1947 erstmals auch als Buch erscheint. Damit ist für die Regierungen in Washington und London die Sache erledigt.
Hitlers verkohlte Leiche wird wieder ausgegraben
Das gilt aber nicht für Stalin. Obwohl seine Experten und sein Geheimdienstchef Berija ihm nach mehreren Untersuchungen und Recherchen ausdrücklich bestätigen, dass die Überreste aus dem Garten der Reichskanzlei von Hitler stammen, will er das einfach nicht glauben.
Hitlers verkohlte Leiche wird ebenso wie die Eva Brauns und die der Goebbels-Familie in Berlin und anderen Orten vergraben, wieder ausgegraben und an einen anderen Ort gebracht. Insgesamt neunmal.
Von Februar 1946 bis April 1970 liegen die Gebeine auf einem Grundstück in Magdeburg, ehe sie im April 1970 ein letztes Mal ausgegraben und vollständig verbrannt werden. Die Asche wird bei dem kleinen Ort Biederitz in Sachsen-Anhalt in einem Fluss verstreut.
Die Gerüchte, dass Hitler überlebt habe, verstummen gleichwohl nie und halten sich unter Verschwörungstheoretikern bis heute. Mit der Wahrheit haben sie absolut nichts zu tun. Stalins Verwirrspiel ist aber ein beredtes Beispiel dafür, wie gezielte Fake News für Unsicherheit sorgen können, wenn ihnen nicht entgegengetreten wird.
Hanna Reitsch
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Hanna Reitsch. Hitlers Überfliegerin. Eine Biografie
Sie war ehrgeizig, erfolgreich und beliebt: die Pilotin Hanna Reitsch. Doch "Hitlers Überfliegerin" hatte auch eine dunkle Seite.