Ohne Rücksicht auf die Realität: Eine haarsträubende Stunde mit Sergej Lawrow

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Sergej Lawrow spricht wieder. Und was er sagt, ist so erwartbar wie irrwitzig. Eine kommentierende Analyse.

Eines ist nach dem Mittwochmorgen sicher: Russlands Außenminister-Urgestein Sergej Lawrow lebt, er ist jedenfalls dem Augenschein nach wohlauf – und er darf weiterhin für Wladimir Putin sprechen. Daran gab es zuletzt nach einigen überraschenden Absenzen durchaus Zweifel. Nun ist Lawrow im russischen Föderationsrat – zumindest auf dem Papier die Entsprechung des deutschen Bundesrates – aufgetreten. Putin dürfte das Gehörte gefallen haben. Was der knurrige Top-Diplomat selbst darüber denkt, wird wohl ein Geheimnis bleiben. Lawrow sieht sich erklärtermaßen strikt als Umsetzungsgehilfe Putin'scher Vorgaben.

Sergej Lawrow am Mittwoch bei seiner Rede im Föderationsrat.
Sergej Lawrow am Mittwoch bei seiner Rede im Föderationsrat. © IMAGO/Russian Federation Council Press

Lawrow trug seine 15-minütige Ansprache an die Vertreter der weitgehend entmachteten russischen Regionen in monotonem Tonfall vor – und stand danach rund 40 Minuten lang Rede und Antwort. Das zu Hörende war einerseits erwartbar. Andererseits in seiner Konsequenz aufs Neue erstaunlich. Wer die letzten 25 Jahre konsequent verschlafen hat, konnte Lawrows Worte teils durchaus sympathisch finden, sogar als liberal gesinnter Westeuropäer. Allein: Die Fakten sprechen eine vollständig andere Sprache.

Lawrow droht Europa, rügt Deutschland – und schmeichelt Trump

„Highlights“ in diesem Sinne: Lawrow pries „Dekolonisierung“ und versprach Kampf gegen Cyberkriminalität, gegen die Verwendung von Technologie für „bösartige Taten“ und „jede Form von Diskriminierung“. Insofern schien er sich durchaus an ein internationales (russlandfreundliches) Publikum zu richten. Putins Außenminister verwies auch auf eine russische „Freundes“-Initiative, die die UN-Charta schützen wolle – das Dokument verlangt unter anderem souveräne Gleichheit der Staaten und Verzicht auf Gewalt. Eine weitere bemerkenswerte Passage: Moskau und Peking formten ein Tandem, das globale „Stabilität“ garantiere, behauptete Lawrow.

Allerdings hat Russland sein Nachbarland Ukraine brutal überfallen, gehört Recherchen zufolge zu den Treibern hybrider Angriffe im Cyberraum. Und es diskriminiert seine indigene Bevölkerung und Minderheiten etwa bei der Rekrutierung für den Ukraine-Krieg auf tödliche Weise. Ein weiterer skurriler Moment: Lawrow behauptete, Russland habe „aus gutem Willen“ 2022 seine Truppen vom Angriff auf Kiew zurückgezogen. Tatsächlich war der Vormarsch im wohl als Blitzkrieg geplanten Angriff auch aufgrund strategischer Fehler und vor allem unerwartet starker Gegenwehr der Ukraine zum Erliegen gekommen.

Lob hatte Lawrow für Donald Trump parat – und räumte dabei indirekt den Angriff auf einen souveränen Staat ein. Der US-Präsident habe als einziger westlicher Staatschef „Verständnis für die Gründe, die einen Krieg in der Ukraine unvermeidlich gemacht haben“, sagte er. An die USA könnte zudem ein Vorwurf gegen Deutschland adressiert gewesen sein: Jegliche Opposition hierzulande sei mundtot gemacht worden, behauptete Lawrow. Trumps Regierung kämpft für „Meinungsfreiheit“ – und stellt sich an die Seite nationalistischer und rechtsextremer Bewegungen in Europa. Allerdings ist die deutsche Opposition kaum mundtot. „Wenn man in Russland sagt, es ist eine Diktatur, dann sitzt man 20 Jahre im Gefängnis. Wenn das jemand hier sagt, denkt man sich ‚das ist ein Depp‘“, sagte der EU-Abgeordnete Helmut Brandstätter zuletzt unserer Redaktion.

Lawrow griff auch einen Hauptbezugspunkt von Putins Russland-Bild auf: den sowjetischen Kampf gegen das deutsche NS-Regime im Zweiten Weltkrieg. Deutschland liefere „tödliche Waffen an ein Neonazi-Regime“ und Kanzler Friedrich Merz spreche davon, die Bundeswehr zur stärksten Armee des Kontinents zu machen: „Sie haben wohl die dunkle Vergangenheit vergessen“, sagte Lawrow. Mit dem Neonazi-Regime meinte er die Regierung von Wolodymyr Selenskyj, der – wenngleich es in der Ukraine wie in zahllosen Ländern rechtsextremistische Gruppierungen gibt – soweit bekannt keine Neonazis angehören. Das Merz zugeschriebene Zitat ist zwar korrekt. Allerdings können Experten und Bundeswehr-Spitzen ein Lied davon singen, dass es erst eine dunkle russische Gegenwart brauchte, bis Deutschland die Verteidigungsausgaben erhöhte.

Eher in Kontakt mit der Realität war Lawrow in einer anderen Passage. Der Westen habe keine andere Möglichkeiten, die Ukraine zu finanzieren, „als russische Goldreserven zu nutzen“. Wahr ist, dass die Ukraine in Finanznöten steckt – und dass die EU diese mit eingefrorenen russischen Mitteln lindern möchte. Auch, weil sie die Aufnahme weiterer Schulden vermeiden will. Lawrow drohte in diesem Kontext: Man wolle zwar keinen Krieg mit Europa führen. „Aber wir werden auf jeden feindseligen Schritt reagieren, einschließlich des Einsatzes europäischer Militärkontingente in der Ukraine und der Enteignung russischer Vermögenswerte. Und wir sind auf diese Reaktion bereits vorbereitet“, betonte er. Solches Drohen gehört allerdings zum bekannten russischen Werkzeugkasten – schon seit Deutschland 2022 über die Lieferung von Gepard-Panzern stritt.

Lawrow-Rede am Mittwoch: Lukaschenko durfte aufhorchen

Lawrows Auftritt hatte mit einer Kanonade an vermeintlich positiven Nachrichten begonnen. Lawrow pries Russlands gutes Verhältnis zu einer ganzen Reihe Ländern. Darunter der Iran – eine potenziell überregional gefährliche Allianz –, China und Indien. Es folgten auch Venezuela, Nordkorea und Nicaragua, das, wie Lawrow nüchtern, aber lobend erwähnte, die völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Oblasten als „integralen Bestandteil“ Russlands anerkannt habe. Nordkorea dankte Lawrow ganz offiziell für Hilfe bei der Rückeroberung Kursks. Der Einsatz der nordkoreanischen Truppen galt lange als Geheimnis.

Bei genauerer Betrachtung scheint die Bilanz weniger eindrucksvoll. Bei Putins Besuch in Indien gab es zwar herzliche Umarmungen, vom Kreml erhoffte Rüstungsdeals blieben aber aus, wie der Guardian notierte. China betrachtet Russland nach Meinung vieler Experten bestenfalls als Juniorpartner. Und Venezuela und Nicaragua scheinen weder geografisch noch machtpolitisch besonders nützliche Faktoren zu sein.

Lawrow versprach verstärkte Kooperationen mit Staaten wie Kasachstan und Kirgistan. Und den Ausbau des Unionsstaates mit Belarus. Nachbar Alexander Lukaschenko könnte das auch als Drohung auffassen. Der alternde Diktator versuche mittlerweile, die Sicherheit seiner selbst und seiner Familie zu garantieren, sagte Belarus-Experte Boris Ginzburg unserer Redaktion zuletzt: „Nicht nur vor der NATO, sondern auch vor Russland.“

Kritische Fragen aus dem Föderationsrat musste sich Lawrow erwartungsgemäß nicht anhören. Die Wortmeldung einer Abgeordneten kann als Beispiel für sich stehen: „Ich möchte Ihnen für den Beitrag des Außenministeriums zur Beilegung der Ukraine-Krise und für den Fokus auf Menschenrechte danken“, sagte sie. „Der globale Medienraum ist angefüllt mit Fehlinformationen zu Russland und der militärischen Spezialoperation“, klagte sie – und forderte „mehr verifizierte und akkurate Information“. (Quellen: Rede Lawrow, The Guardian, eigene Recherchen)