Grüne offenbaren mit paradoxem Applaus für Ricarda Lang ihr Führungsproblem

Als die Grünen-Vorsitzende Franziska Brantner in Hannover ans Podium tritt, ist die Spannung groß. Kann sie dem Parteitag und den 823 Delegierten den nötigen Schub mitgeben? Oder wird die Rede eine, die morgen schon wieder vergessen ist?

Brantner beginnt mit Angriffen auf die Bundesregierung um Kanzler Friedrich Merz. "Er kann es nicht", ruft die Grünen-Chefin in die Messehalle, die Delegierten applaudieren. Doch gerade als der Saal in Oppositionsstimmung kommt, biegt Brantner ab: "Ich könnte noch stundenlang vom Leder ziehen, aber die Realität ist doch, dass die Probleme größer sind als diese Regierung."

Bei Rente sagt Grünen-Chefin Brantner nur die halbe Wahrheit

Die Parteivorsitzende hat vier Punkte ausgemacht, die Deutschland und die Grünen wieder zu Kraft bringen sollen. Der erste ist Ehrlichkeit, Brantner liefert ein paar Wahrheiten, die von den Delegierten nur mit wenig Beifall gewürdigt werden: Klimaschutz kostet, der deutsche Föderalismus bremst, wir müssen alle mehr leisten. 

"Die Rente können wir nicht halten, wenn wir sie lassen, wie sie ist", analysiert Brantner. "Wenn alle 100 Jahre alt werden, werden einige ein paar Jahre länger arbeiten müssen." Das ist eine Positionsverschiebung, gut versteckt in der Rede. Denn zur Wahrheit gehört auch: Dem linken Parteiflügel gefällt das nicht.

Am Ende versandet die Rede im inhaltlichen Klein-Klein

Den lautesten Applaus erhält Brantner, wenn sie der Partei und dem Land Mut zuspricht. Sie predigt Eigenverantwortung und will die Generationen zusammenbringen – das sind ihre Punkte zwei und drei. Beim vierten versandet die Rede dann im inhaltlichen Klein-Klein: Brantner will "das Internet befreien" von den Tech-Milliardären. Eingefleischte Netzpolitiker mag das abholen – die Zuschauer draußen im Land eher nicht.

Franziska Brantner
Die Parteivorsitzende der Grünen, Franziska Brantner, ist nicht als große Rednerin bekannt. Moritz Frankenberg/dpa

Brantner gilt nicht als große Rednerin, an das Charisma eines Robert Habeck kommt sie nicht heran. Manche Delegierte bewerten die Rede daher als eine ihrer besseren. An dieser Stelle könnte man einen Haken dahinter machen – wären da nicht die Geister der Vergangenheit.

Das Los lässt die Ex-Vorsitzenden im Doppelpack antreten

Das Los will es, dass die Ex-Parteivorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang gegen Ende der Aussprache direkt hintereinander sprechen. Nouripours Rede ist noch keine Minute alt, da springen die Delegierten das erste Mal von ihren Stühlen auf. Der Bundestagsvizepräsident hat die Bundesregierung dafür kritisiert, sich nicht einmal zu einem Prüfauftrag für ein AfD-Verbotsverfahren durchringen zu können.

Wo Brantner sich bei der Merz-Kritik bremste, geht Nouripour in die Vollen. Er hält dem Kanzler vor, mit einer ungeschickten Bemerkung die brasilianische Regierung gegen sich aufgebracht zu haben. Das ist zwar schon einige Tage her, verfängt bei den Delegierten aber trotzdem.

Lang und Nouripour wollen mehr grünes Selbstbewusstsein

Dann gibt der Ex-Vorsitzende seiner Partei gute Ratschläge mit: "Wir müssen die Mitte der Gesellschaft suchen, nicht die bequeme Nische." Und: "Wir müssen auch mal entscheiden und nicht immer Formelkompromisse eingehen."

In eine ähnliche Kerbe schlägt dann Nouripours ehemalige Co-Vorsitzende Lang. Sie fordert Haltung ein, "dass wir selbstbewusst in unseren inhaltlichen Überzeugungen sind." Zugleich mahnt sie, immer wieder die inhaltliche Substanz dieser Überzeugungen zu prüfen. Und schließlich, die Strukturen für eine erfolgreiche Partei zu schaffen, zum Beispiel, indem die Grünen aus der Ampel-Regierungszeit lernen. 

Die kurze Redezeit tut gut

Ein Dreiklang, ungleich knackiger vorgetragen als Brantners vier Punkte. Es scheint, als tue es Lang und Nouripour gut, eine sehr begrenzte Redezeit zu haben – während es bei Brantner wie eine Last wirkt, dass sie als Vorsitzende länger sprechen muss.

Lang endet mit einem Mut-Appell: "Wir sind doch nicht nur meinungsabbildende Kraft, die Umfragen hinterherrennt. Mutige Parteien können Meinungen bilden, die können Mehrheiten schaffen und damit Realität verändern. Also lasst uns eine mutige Partei sein." Wie Nouripour wird Lang mit Standing Ovations bedacht.

Paradox: Die Bejubelten wurden vor einem Jahr vom Hof gejagt

Besonders paradox ist das, weil es gerade mal ein Jahr her ist, dass beide als Vorsitzende vom Hof gejagt wurden. Die größten Hoffnungsträger der verunsicherten Grünen scheinen an diesem Freitag die geschassten Ex-Chefs zu sein. Das zeigt zum einen, dass die beiden befreit sind von der Last der Macht. Zum anderen offenbart der paradoxe Applaus für die Ehemaligen, wie groß das Führungsproblem der Partei ist. 

In der Aussprache übt niemand offen Kritik an Brantner und ihrem Co-Vorsitzenden Felix Banaszak, der am Samstag sprechen soll. Doch hinter vorgehaltener Hand zählt so mancher Delegierte das Führungsduo an. 

Das Tuschel-Thema: Nach den fünf Landtagswahlen im kommenden Jahr, beim nächsten Parteitag, könnten Brantner und Banaszak wiedergewählt werden – oder es wäre ein guter Zeitpunkt, um einen sauberen Schlussstrich zu ziehen.