Millionen Deutsche betroffen: Merz-Regierung liebäugelt mit neuer Praxisgebühr – jetzt regt sich Protest

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Die Krankenkassen sind überlastet. Um für die Kassen Luft zu schaffen, erwägt die Gesundheitsministerin einen drastischen Schritt – die Praxisgebühr könnte kommen.

Berlin – Der Arztbesuch könnte für Millionen von Bürgern bald deutlich teurer werden. Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) erwägt die Wiedereinführung einer Praxisgebühr für Arztbesuche von gesetzlich Versicherten. „Ohne irgendein Steuerungselement geht es nicht“, sagte Warken der Rheinischen Post. Doch eine Zwei-Klassen-Medizin wolle man nicht schaffen. Denkbar sei aber auch stattdessen ein Bonus für Patientinnen und Patienten, die vor einem Facharztbesuch zunächst ihre Hausärztin oder ihren Hausarzt konsultieren.

Gesundheitsministerin Nina Warken im Gespräch mit Bundeskanzler Friedrich Merz.
Gesundheitsministerin Nina Warken im Gespräch mit Bundeskanzler Friedrich Merz. © IMAGO/dts Nachrichtenagentur

Warken machte auch deutlich, dass sie eine mögliche Praxisgebühr mit der Einführung eines Primärarztsystems verknüpfen wolle. Ein solches System, wonach Fachärztinnen und Fachärzte nur auf ärztliche Überweisung hin aufgesucht werden sollten, könne zugleich Wartezeiten auf Facharzttermine verkürzen, argumentierte die Ministerin.

Ökonom plädiert für moderne Form der Praxisgebühr – Entlastung für die Krankenkassen

Dabei ist eine solche Gebühr keine neue Erfindung. Der Gesundheitsökonom Christian Hagist schlägt schon länger ein neues Konzept zur Patientensteuerung vor. Unter dem Namen „Kontaktgebühr“ fordert er eine Einführung einer modernisierten Form der abgeschafften Praxisgebühr, schreibt der MDR in einer Analyse. Anders als die frühere Regelung soll jeder einzelne Arztbesuch 15 Euro kosten – unabhängig davon, ob Hausarzt, Zahnarzt oder Notaufnahme aufgesucht wird. Das Modell zielt darauf ab, die Wartezeiten in überfüllten Praxen zu reduzieren und die angespannte Finanzlage der gesetzlichen Krankenkassen zu entlasten.

Hagist verspricht sich von der Gebühr eine deutliche Entlastung der Krankenkassen um bis zu 17 Milliarden Euro jährlich. Gleichzeitig soll sie überflüssige Arztkontakte eindämmen und damit Wartezimmer leeren sowie die Akutversorgung verbessern. „Eine Gebühr dämpfe überflüssige Arztkontakte, entlaste damit Praxen und Notaufnahmen und verkürze Wartezeiten“, argumentiert der Gesundheitsökonom. Im Gegenzug könnten die bisherigen Zuzahlungen für Krankenhausaufenthalte wegfallen.

Hausärzteverband kritisieren Warkens Vorstoß scharf – „unsozial“ und „undurchdacht“

Das Konzept sieht eine soziale Abfederung vor: Maximal zwei Prozent der jährlichen Brutto-Einkünfte sollen als Kontaktgebühr anfallen, für chronisch Kranke nur ein Prozent. Bei einem durchschnittlichen Arbeitnehmer mit 3.000 Euro Bruttogehalt läge die Obergrenze bei 720 Euro pro Jahr. Da Deutsche im Schnitt zehnmal jährlich zum Arzt gehen, würden real etwa 150 Euro pro Jahr fällig – für chronisch Kranke die Hälfte.

Politischen Rückenwind erhält der Vorschlag vom Arbeitgeberverband BDA. Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter wirbt für weniger „Ärzte-Hopping“ und besser gesteuerte Patientenströme, um Abläufe im Gesundheitswesen planbarer zu gestalten, wie der MDR berichtet. Der Verband sieht in der Kontaktgebühr ein wirksames Instrument zur Systemsteuerung.

Die Kritik auf Gesundheitsministerin Warkens Vorschlag folgte prompt: Der Hausärzteverband bezeichnet eine Kontaktgebühr als „unsozial“ und „undurchdacht“, da sie Menschen mit vielen Terminen besonders hart treffe – gerade chronisch Kranke. Wer knapp bei Kasse sei, könnte notwendige Termine aus Kostengründen aufschieben. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz spricht von einer „alten Leier“ ohne verlässliche Steuerungswirkung, die nur Bürokratie schaffe.

„Praxisgebühr reloaded“? KBV lehnt Warkens neue Praxisgebühr ab

Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, lehnt eine Wiedereinführung der Praxisgebühr ab. „Eine ‚Praxisgebühr reloaded‘, wie wir sie vor rund 20 Jahren schon mal hatten, spült zwar Geld in die Kassen, wäre aber in der früheren Art und Weise sehr bürokratisch und würde kaum als Steuerungsinstrument taugen“, sagte er der Rheinischen Post. Stattdessen fordert er unterschiedliche Wahltarife für Kassenpatienten.

Gassen schwebt vor, dass Patienten, die sich durch das Gesundheitssystem leiten lassen, einen geringeren Beitragssatz zahlen könnten. „Lässt sich der Patient durchs Gesundheitssystem leiten, zahlt er gegebenenfalls einen geringeren Beitragssatz“, erläuterte er. Dabei gehe es nicht darum, Menschen Leistungen vorzuenthalten, sondern um sinnvolle Steuerung knapper werdender Ressourcen im Gesundheitswesen.

Rückblick auf die Praxisgebühr – kurzfristig weniger Arztbesuche, weniger Vorsorgetermine

Die historische Erfahrung mit der Praxisgebühr von 2004 bis 2012 zeigt gemischte Ergebnisse. Die pauschale Gebühr von zehn Euro pro Quartal führte zunächst zu einem Rückgang der Arztbesuche, besonders bei Fachärzten. Der Effekt ließ jedoch nach, die Fallzahlen stiegen wieder an. Zudem entstanden erhebliche Verwaltungskosten, während die Einsparungen hinter den Erwartungen zurückblieben. Befürchtungen, dass auch medizinisch sinnvolle Vorsorgetermine ausblieben, führten schließlich zur Abschaffung der Gebühr.

Deutsche gehen im europäischen Vergleich besonders häufig zum Arzt – durchschnittlich zehnmal pro Jahr. Nur wenige europäische Länder wie Ungarn, Tschechien und die Slowakei weisen höhere Werte auf. Das liegt weniger an deutscher Hypochondrie als am Systemaufbau: Patienten können vergleichsweise niedrigschwellig Fachärzte aufsuchen, ohne vorher zwingend den Hausarzt konsultiert zu haben. Zudem lohnen sich für Ärzte Patientenkontakte pro Quartal, was zu mehreren kurzen Einzelterminen statt längerer Behandlungen führen kann. (Quellen: MDR/AFP/Rheinische Post) (sischr)