Caspar nahm 10 Jahre lang Crystal Meth - seine Prognose für Haftbefehl ist düster

FOCUS online: Auf Ihrem YouTube-Kanal "Leben, lieben, leiden" unterhalten Sie sich mit meist fremden Gästen rund eine Stunde lang sehr intensiv über das Thema Sucht und Konsum. Sie haben zehn Jahre lang selbst Crystal Meth konsumiert. Und Sie sind Musiker. Ein guter Ansprechpartner also, wenn es um die Netflix-Doku "Die Haftbefehl-Story" geht…

Sebastian Caspar: Wie man’s nimmt. Ich bin 48 Jahre alt und damit nicht primär die Zielgruppe von Haftbefehl.

Wo sehen Sie die?

Caspar: Bei den 15- bis 25-Jährigen. Vielleicht auch eher noch ein bisschen jünger. Musikalisch bin ich da nicht dabei. Sowieso ist die Musik bei Haftbefehl für mich eher ein Nebenschauplatz.

Heißt?

Caspar: Haftbefehl ist eine Marke, an der viele Menschen sehr viel Geld verdienen. Und jetzt verdient Netflix mit. Dass das Unternehmen sich dem Thema angenommen hat, war sicherlich ein Risiko. Aber anscheinend ist die Rechnung aufgegangen. Das ist ein Stück weit tragisch, denn das bisherige Muster läuft damit weiter.

"Niemand sagt: Pass auf, Hafti, da läuft was schief"

Welches Muster?

Caspar: Schon damals war das bei Aykut Anhan (Anm. d. Red.: der bürgerliche Name des Rappers) so. Der Junge soll Platten machen, Kohle reinspülen. Niemand aus der Musikindustrie bremst ihn. Niemand sagt: Pass auf, Hafti, da läuft was schief. Fakt ist, Aykut Anhan hat sich mit schöner Regelmäßigkeit in die Überdosis reingeknallt. Und niemand hat ihn gestoppt.

Rapper Haftbefehl in der Netflix-Doku "Babo" vor seinem Absturz
Rapper Haftbefehl in der Netflix-Doku "Babo" vor seinem Absturz Netflix

Sehen Sie die Doku kritisch?

Caspar: Sie hat mich getriggert. Ich feiere das nicht, was da passiert. Wir könnten jetzt über Gangsta-Rap reden, über Gewaltverherrlichung und ein kaputtes Frauenbild. Andererseits ist es eine Art Theaterstück, eine musikalische Kunstform, in der diese Attitüde dazugehört. Diese Dinge würden schließlich nicht im echten Leben gesagt, sondern auf der Bühne. Wo die Doku mich wirklich gekriegt hat, war zum Ende hin. Da wird es für mich sehr menschlich. Plötzlich hört Haftbefehl den Liedermacher Reinhard Mey. Das fand ich ein ganz starkes Bild.

"Beleg, dass diese Gangsta-Rap-Geschichte nur eine Rolle ist"

Sie bezeichnen sich selbst auch als Liedermacher, richtig?

Caspar: Ja, und es gefällt mir, dass Reinhard Mey durch die Haftbefehl-Doku jetzt plötzlich in den Charts ist. Das ist so ein Beispiel, das mir zeigt: Man darf nicht in seinen Vorurteilen gefangen sein. Ich hätte nie gedacht, dass Haftbefehl Reinhard Mey hört! Dass er das fühlt. Ein Beleg mehr dafür übrigens, dass diese Gangsta-Rap-Geschichte im Grunde nicht mehr als eine Maske, eine Rolle ist. Mir gibt das Hoffnung, gerade auch für die junge Zielgruppe.

Inwiefern?

Caspar: Sie haben meinen YouTube-Kanal angesprochen. Aus zahlreichen Gesprächen weiß ich, was für eine enorme Kraft die ehrliche Konfrontation mit dem Problem auslösen kann.

"Haftbefehl ist massiv gefährdet für einen Rückfall"

Sie meinen das Problem Kokainkonsum?

Caspar: Zum Beispiel. Ich erlebe es immer wieder als zentral, zu diesem Moment zurückzugehen, wo das Gegenüber verletzt wurde. Wo diese Wunde entstanden ist, die dann beispielsweise jahrzehntelang mit Koks gefüllt wurde. In der Doku erfahren wir, dass der Vater von Haftbefehl sich das Leben genommen hat. Mich beeindruckt, wie radikal ehrlich er an der Stelle wird. Dass er sich nicht weiter versteckt. Dass er sinngemäß fast sagt: Schaut, was für ein Loser ich bin. Die Doku endet ja damit, dass Haftbefehl das Kamerateam aus dem Hotelzimmer schmeißt und alleine mit der Kamera im Bad zurückbleibt. Er fängt dann an, mit sich selbst zu reden. Das finde ich eine ganz starke Szene, denn sie macht klar, wie alleine er ist. Für mich ist dieses Ende im Grunde ein Anfang. Ich wünsche Haftbefehl die Stärke und die Klarheit, jetzt weiterzugehen. Wenn Sie mich fragen: Haftbefehl ist massiv gefährdet für einen Rückfall!

Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Caspar: Naja, er wurde ja in eine Istanbuler Klinik quasi zwangseingewiesen. Durch seinen Bruder. So was ist als Maßnahme wirklich die allerletzte Option. Eine Intervention, die komplett von außen kommt. Die eigentliche Arbeit beginnt im eigenen Inneren. Das Feld, das es zu beackern gilt, das Trauma Vater, muss Aykut selbst beackern, sicherlich auch mit therapeutischer Hilfe. Das kann nicht der Bruder machen. Noch mal: Mit dem Ende der Doku fängt es für Aykut eigentlich erst an.

"Der Verfall von Drogenabhängigen geschieht vor unseren Augen"

Was glauben Sie, warum geht diese Doku so durch die Decke? Weil schonungslos klar wird, wie groß das Kokain-Problem ist? Im sichergestellten Kokaingewerbe soll es im letzten Jahr einen Anstieg von 45 Prozent gegeben haben. Hendrik Streeck (CDU), der Bundesbeauftragte für Sucht- und Drogenfragen, meinte kürzlich, die Drogenpolitik und der Drogenmarkt sei uns "entglitten".

Caspar: Ich glaube nicht, dass das den Erfolg der Serie erklärt.

Würden Sie denn nicht bestätigen, dass es überrascht, wie groß das Thema ist?

Caspar: Ich denke, das wissen wir längst. Die 15- bis 25-Jährigen, die die Doku schauen, wissen es ganz sicher. Und jeden, der es nicht weiß, möchte ich fragen: Geht ihr eigentlich mit beiden Augen durch die Stadt? Seht ihr den Hauptbahnhof nicht? Der Verfall von Drogenabhängigen geschieht direkt vor unseren Augen. Haftbefehl hat das Glück, dass er Millionen auf dem Konto hat und ein Netzwerk, das ihn supportet. Mittlerweile jedenfalls. Dies fehlt jedoch den meisten Suchtkranken – sie sind komplett allein.

Warum dann der Erfolg, wenn das Überraschungs-Moment keine Rolle spielt?

Caspar: Ich kann da nur für mich sprechen. Und für mich spielt die Überraschung schon eine Rolle, aber anders als von Ihnen gerade beschrieben. Wie gesagt, mit der Kunstfigur Haftbefehl kann ich nicht viel anfangen. Aber mit Aykut als Mensch schon. Den Menschen in seiner inneren Zerrissenheit, den fühle ich. Mein Fazit: Der Film gibt einen mutigen, authentischen Einblick in das Leben eines Süchtigen. Durch die Doku können wir hinter das Label Haftbefehl schauen und den Menschen in seinem ganzen Umfang wahrnehmen. Mit all seinen Verletzungen, mit seinem ganzen Scheitern. Gerade die fundamentale Ehrlichkeit zum Schluss ist für mich eine wichtige Botschaft. Und auch das mit Reinhard Mey. Ich selbst bin als Musiker bei Konstantin Wecker unter Vertrag. Ich gehe mal davon aus, 99 Prozent der Leute, die die Doku sehen, haben bis eben noch nie was von einem der beiden Liedermacher gehört. Ist doch toll, wenn sich das jetzt ändert. Wenn durch diese für mich nahbare Musik etwas aufbricht. Wenn Grenzen überwunden werden und verschiedene Generationen mehr zusammenfinden. Das kann nie schlecht sein.

"Ich musste lernen, mein Leben wieder zu füllen"

In aller Kürze: Wie haben Sie den Weg aus der Sucht geschafft?

Caspar: Einen Tag X, an dem ich mit Drogen aufgehört habe, gab es jedenfalls nicht. Ich war auch nicht der klassische Konsument, der in der Ecke liegt und sabbert. Ein bisschen wie Haftbefehl: Ich habe weiter als Bühnenbauer oder im Skateboard-Laden gearbeitet, stand auch regelmäßig auf der Bühne. Das Problem war nicht das Funktionieren…

Sondern?

Caspar: Ich musste lernen, mein Leben, das sich nur noch auf notwendige Abläufe beschränkte, wieder zu füllen. Nicht mit Hilfe von Substanzen, sondern aus mir selbst. Nicht punktuell, sondern nachhaltig. Mithilfe meiner Frau habe ich Facetten von Nähe und Zärtlichkeit kennengelernt, wie sie unter der Einnahme von Drogen nicht möglich sind. Ich wünsche Haftbefehl, dass er ähnliche Erfahrungen machen kann. Wenn seine Frau in der Doku sagt, sie sei 24/7 mit den Kindern allein, macht mich das sehr nachdenklich und traurig.