Wer an einem grauen Novembermorgen durch eine deutsche Innenstadt läuft, sieht Coffee-to-go, E-Scooter und fast fertig montierte Weihnachtsbeleuchtung. Einen Luftschutzkeller entdeckt sicher niemand.
Wenn aber über den Dächern in Zukunft doch kein Adventsstern, sondern eine Drohne auftauchen sollte, stellt sich eine naheliegende Frage: Wohin eigentlich, wenn es ernst wird? Die nüchterne Antwort aus Akten, Gutachten und Interviews lautet: Bricht in den nächsten drei Jahren ein Krieg aus, was Verteidigungspolitiker durchaus für möglich halten, sind die Deutschen weitgehend schutzlos.
579 öffentliche Bunker – aber kaum einer ist funktionsbereit
Nach Auskunft des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) existieren in Deutschland aktuell 579 öffentliche Schutzräume mit rund 478.000 Plätzen. Die meisten stammen aus dem Kalten Krieg und liegen in privater oder kommunaler Hand. Sie wurden 2007 mit der sogenannten "Friedensdividende" aus der Zivilschutzbindung entlassen, das heißt nicht länger auf ihre Tauglichkeit überprüft. Die funktionale Erhaltung wurde eingestellt, die Wartung gestoppt, die Technik ausgebaut. Funktionsbereit ist kaum einer dieser Räume.
Die vermeintliche Schutzarchitektur Deutschlands gleicht damit einem Museumsdorf: Man kann noch erkennen, wie es einmal gedacht war – benutzen kann man es nicht mehr. 579 Schutzräume – das ist im Schnitt nicht einmal einer pro Landkreis und kreisfreier Stadt, geschweige denn, dass sich alle Menschen in Sicherheit bringen könnten. Deutschland zählt gut 84 Millionen Einwohner. Das heißt: Nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung hätte im Ernstfall einen Platz in einem dieser Bunker.
Und selbst diese Zahl ist Theorie – denn viele Anlagen sind baulich oder technisch eben heruntergekommen. Die meisten Menschen müssten im Ernstfall in Kellern, Tiefgaragen, Treppenhäusern ausharren, ohne Belüftung, ohne Notstrom, ohne Vorräte.
Drei Jahre nach der Zeitenwende ist Deutschland weiter "blank"
Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 ist die Sorge vor einem Krieg in Europa zurück. Der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz rief zwar die "Zeitenwende" aus – vor allem für die Bundeswehr. Beim Schutz der Zivilbevölkerung aber ist diese Zeitenwende bislang ausgefallen.
Christian Reuter, Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), zieht eine vernichtende Bilanz: "Drei Jahre später sind wir noch immer blank, der Zivilschutz ist auf den Verteidigungsfall nicht vorbereitet." Es fehlten Unterbringungsmöglichkeiten, geschultes Personal, Notfallkapazitäten in Krankenhäusern und eine gesicherte Arzneimittelversorgung. Wenn der oberste Katastrophenhelfer des Landes von "blank" spricht, meint er nicht: Es fehlt noch Feinschliff. Er meint: Die Grundausstattung ist nicht da.
Neue Bunker zu bauen, dauert "eine ganze Generation"
Auch aus der zuständigen Bundesbehörde klingt es alles andere als entspannt. Der Präsident des BBK, Ralph Tiesler, sagt in Interviews: "Wir müssen in allen Bereichen widerstandsfähiger werden." Er bewertet den Bevölkerungsschutz als "in allen Bereichen ausbauwürdig".
Und er warnt: Neue öffentliche Schutzräume zu errichten, dauere "eine ganze Generation". Eine Generation – das sind eher 20 Jahre als drei. Für einen möglichen Krieg ab 2028 oder 2029 ist der Bevölkerungsschutz auf jeden Fall nicht gerüstet.
Dobrindt will investieren, aber bislang herrscht Planlosigkeit
Die schwarz-rote Bundesregierung weiß das, aber mehr als die Ankündigung, hier zu investieren, ist ihr bislang nicht eingefallen. Eine Prioritätenliste? Fehlanzeige. Schutzübungen für die gesamte Bevölkerung, wie sie beispielsweise in Finnland existieren, gibt es nicht.
Das Land im hohen Norden mit seiner langen Grenze zu Russland hat sein staatliches Notfallprogramm nie abgeschafft: 72 Stunden muss dort jeder Haushalt unabhängig überleben können. Danach greift in Finnland die staatliche Versorgung mit Getreidevorräten, Medikamenten und Notfall-Supermärkten – in Deutschland existiert nichts dergleichen.
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hat zwar einen "Pakt für den Bevölkerungsschutz" angekündigt: Zehn Milliarden Euro sollen bis 2029 für Sirenen, digitale Warnsysteme, Fahrzeuge – und zusätzliche Schutzräume ausgegeben werden. Geplant ist ein Schutzraumkonzept, das weniger auf neue Bunker setzt, sondern vorhandene Bauten – Tiefgaragen, U-Bahnhöfe, Keller öffentlicher Gebäude – zu Zufluchtsorten machen soll. Eine App soll im Ernstfall den Weg zum nächsten Schutzraum weisen.
Bislang aber ist das Gedankenspielerei. Konkrete Nachfragen an das BBK nach Ertüchtigungsprogrammen für die Schutzräume, nach Finanzierungen, möglichen Neubauten, der regionalen Abdeckung oder dem Zugang für Kinder, Pflegebedürftige, logistisches Personal bleiben unbeantwortet. Die Schweigsamkeit der Verantwortlichen ist nichts Neues: In Beraterkreisen ist von "völliger Planlosigkeit" die Rede. Die eine Hand wisse nicht, was die andere tue.
Über Standorte der Bunker wird nicht informiert
Woran es liegt? Zwischen der politischen Ankündigung und der realen Betontür liegen Haushaltsverfahren, Bauplanungsrecht, Ausschreibungen, Fachkräftemangel. Wenn eine Bundesregierung, die gerade erst angefangen hat, im Herbst 2025 Milliardenprogramme bis 2029 verspricht, ist das eine Versicherung für irgendwann – aber nicht für den Fall, dass die Sirenen 2026 oder 2027 heulen.
Und falls sie heulen, weiß keiner wohin. "Eine Veröffentlichung einzelner Schutzraumadressen oder Besichtigungen der Anlagen ist aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und des Eigentumsschutzes nicht möglich", teilt das BBK auf Anfrage mit.
Föderalismus wird beim Bevölkerungsschutz zum Problem
Zum strukturellen Problem wird auch einmal mehr der deutsche Föderalismus. Zuständigkeitsrechtlich ist alles sauber: Der Bund schützt im Verteidigungsfall die Zivilbevölkerung, die Länder verantworten den Katastrophenschutz, die Kommunen organisieren vor Ort. In der Praxis entsteht daraus ein Kompetenzdschungel.
Der Reserveoffizier und Bevölkerungsschutzexperte Björn Stahlhut sagt im Gespräch mit "Euronews", er könne "weder beim Zivil- noch beim Katastrophenschutz einen echten gemeinsamen Plan von Bund, Ländern, Gemeinden und Hilfsorganisationen erkennen" – und das, "wo wir eigentlich mit der Zeitenwende und dem Fokus auf das Jahr 2029 echt viel Druck auf dem System haben".
Auch sozialdemokratische Kommunalpolitiker fordern inzwischen mehr Klarheit. In einem Positionspapier heißt es, Ziel müsse eine "effiziente und klare Aufgabenverteilung" zwischen Bund und Ländern sein. Übersetzt heißt das: Die aktuelle Verteilung ist weder effizient noch klar. Im Schattenkrieg aus Cyberangriffen, Drohnenüberflügen und Sabotage – so beschreiben Sicherheitsbehörden die derzeitige Bedrohungslage – ist diese Unklarheit aber fatal. Wenn der Einschlag auf einmal keine Übung mehr sein sollte, braucht es keine Zuständigkeitsdebatte, sondern klare Befehlsketten.
Steigende Nachfrage bei Anbietern privater Bunker
Wo der Staat derartige Lücken lässt, springt inzwischen der Markt ein. Private Bunker werden zum Geschäftsmodell. Der Hersteller BSSD Defence bietet unterirdische Schutzräume ab rund 79.000 Euro an: 9,6 Quadratmeter, Panzertür, Trocken-WC. Die Nachfrage ist groß, 2025 meldet das Unternehmen, die Anfragen seien seit Jahresbeginn um 50 Prozent gestiegen. Mehr als die Hälfte der Interessenten seien Unternehmen und Vermieter, die auf ihrem Gelände oder für ihre Mieter Schutzräume wollen. Auch andere Anbieter sprechen von "dramatisch" steigender Nachfrage.
Deutschland rüstet damit nicht in Betonkolossen der öffentlichen Hand auf, sondern in kleinen, teuren Privatinseln im Vorgarten. Es entsteht eine Zwei-Klassen-Sicherheit: Wer Geld hat, kann sich eingraben. Wer keins hat, muss im Treppenhaus ausharren statt im Schutzraum.
Dieser Artikel entstand in Kooperation mit "Business Punk".