Seit dieser Woche läuft mein neuer Polit-Talk "Meinungsfreiheit mit Nena Brockhaus" auf WELT TV und die dritte Sendung führte direkt zu einer bundesweiten Debatte. CDU-Politiker Hendrik Streeck sagte, es brauche in der medizinischen Selbstverwaltung klarere Richtlinien bei der Vergabe von Medikamenten mit Blick auf allgemeine Gesundheitskosten. "Es gibt einfach Phasen im Leben, wo man bestimmte Medikamente auch nicht mehr einfach so benutzen sollte", so Streeck.
Dabei verwies der Drogenbeauftragte der Bundesregierung auf eine teure Krebstherapie bei einer 100-Jährigen und auf Erfahrungen, die er in der letzten Lebensphase seines Vaters gemacht habe. Ich finde nicht nur, dass Streeck damit einen Punkt hat. Sondern vor allem, dass es wichtig ist, diese Debatte zu führen. So wie ich sehen das aber nicht alle in unserem Land.
Kritik für seinen Vorstoß erntet Streeck aus verschiedenen politischen Lagern. Beispielsweise von dem früheren Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Dieser schrieb auf X, dass eine Altersrationierung teurer Medikamente ethisch unhaltbar und unnötig sei.
Auch Kubicki teilte gegen Streeck aus
Auch FDP-Politiker Wolfgang Kubicki teilte gegen Streeck auf X aus: "Ein älterer Mensch hat genau denselben Anspruch auf eine gute medizinische Versorgung wie ein junger. Man muss über Effizienz im Gesundheitssystem reden, aber dieser kalte Zynismus von Hendrik Streeck stößt mich ab und steht im Widerspruch zu den fundamentalen Werten, auf denen dieses Land fußt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt. Die Verfassung spricht ausdrücklich nicht von Nützlichkeit. WK"
Ich möchte verstehen, warum Kubicki derart hart reagiert und ob er bei seiner harten Kritik gegenüber Hendrik Streeck bleibt. Ich greife zum Hörer und wähle seine Nummer.
"Eine Therapieentscheidung darf niemals vom Alter abhängig gemacht werden"
Brockhaus: "Herr Kubicki, Sie kennen Hendrik Streeck gut. Seine Aussagen zum Thema Übertherapie am Lebensende haben hohe Wellen geschlagen. Sie haben selbst öffentlich kritisch reagiert. Bleiben Sie dabei?"
Wolfgang Kubicki: "Schauen Sie, wir sind freundschaftlich verbunden. Ich glaube nicht, dass Hendrik es so gemeint hat, wie es rüberkam. Aber: Er hat Alter und Therapie miteinander verknüpft – und das ist rechtlich wie ethisch hochproblematisch. Eine Therapieentscheidung darf niemals vom Alter abhängig gemacht werden."
Brockhaus: "Aber er hat ja ausdrücklich erzählt, dass sein eigener Vater in den letzten Wochen seines Lebens völlig sinnlos durch medizinische Prozeduren geschleust wurde. Er wollte deutlich machen: Es gibt Übertherapie – und zwar massive. Und ich kenne das aus der eigenen Familie genauso."
Kubicki: "Das bestreite ich gar nicht! Übertherapie gibt es – bei Jungen wie bei Alten.
Aber noch einmal: Der Punkt ist nicht das Alter. Ein sehr junger Mensch mit Krebs bekommt in den letzten drei Wochen auch noch alles, was medizinisch möglich ist, obwohl es manchmal kaum hilft. Das zeigt doch: Das Problem ist nicht 'der 100-Jährige'. Das Problem ist, wenn man Maßnahmen ergreift, die keinen Erfolg mehr haben können."
"Sobald jemand Alter und Therapie koppelt, entsteht eine toxische Debatte"
Brockhaus: "Aber warum passiert das dann so oft? Ich habe Zahlen mitgebracht:
Bis zu 30 bis 40 Prozent der Krebspatienten in Deutschland erhalten in den letzten 30 Tagen vor dem Tod noch systemische Tumortherapien, obwohl der Nutzen extrem unwahrscheinlich ist. Das ist doch real! Das ist nicht nur Theorie."
Kubicki: "Ja, das gibt es. Aber nicht, weil Ärzte grausam sind, sondern weil unser System viele Fehlanreize setzt – auch ökonomische. Deutschland hat doppelt so viele Knie- und Hüft-OPs wie andere Länder. Das sagt doch alles. Dort muss man ansetzen – nicht bei Altersgrenzen."
Brockhaus: "Aber Hendrik hat ja gesagt, wir bräuchten 'klarere und verbindliche Leitlinien, dass bestimmte Medikamente auch nicht immer ausprobiert werden sollten – es gibt einfach Phasen im Leben, wo man bestimmte Medikamente auch nicht mehr einfach so benutzen sollte'. Ich finde, er spricht da einen wichtigen Punkt an."
Kubicki: "Wenn es nicht wirkt, darf es für niemanden – egal ob 10, 40 oder 100 – verabreicht werden. Das ist schon heute Gesetz. Mein Problem ist: Sobald jemand Alter und Therapie koppelt, entsteht eine toxische Debatte. Stellen Sie sich vor, ein 75-Jähriger hört das und denkt: 'Die lassen mich jetzt sterben, weil ich zu teuer werde.' Das ist brandgefährlich."
Brockhaus: "Aber die Realität ist doch: 1,7 Prozent der Medikamente machen 50 Prozent der Arzneimittelkosten aus – meistens am Lebensende. Im Sterbejahr sind die Kosten etwa sechsmal so hoch wie die durchschnittlichen Leistungsausgaben über das restliche Leben hinweg.
Und eine Auswertung von GKV-Routinedaten zeigt: Besonders in den letzten drei Monaten sind hochpreisige Medikamente – etwa Onkologika, Biologika, Immunsuppressiva und antivirale Therapien – überrepräsentiert. Irgendwann können wir das doch finanziell nicht mehr tragen. Was ist die Lösung?"
Kubicki: "Nicht das Alter. Die Lösung ist: Palliativmedizin massiv stärken. Dafür kämpfe ich seit 20 Jahren. Wir behandeln Sterben oft wie ein technisches Problem, nicht wie eine zutiefst menschliche Phase. Die letzten Wochen eines Menschen dürfen nicht im Krankenhaus vergeudet werden, wenn es keinen Nutzen bringt. Ich habe mit einem Freund vor seinem Tod Rotwein getrunken. Ein Arzt hat den Prozess begleitet. Er konnte friedlich zu Hause sterben."
Kubicki bringt brisanten Klinik-Vorschlag
Brockhaus: "Da bin ich völlig bei Ihnen. Ich habe mit meinem Vater im Hospiz an Silvester Champagner getrunken – sieben Tage vor seinem Tod. Aber Hendrik Streeck hat doch recht: Es gäbe weniger Übertherapie, wenn wir klare Regeln hätten, die verhindern, dass Kliniken aus wirtschaftlichen Gründen sinnlose Maßnahmen durchführen."
Kubicki: "Dann bestrafen wir die Falschen. Mein Vorschlag ist viel einfacher: Wenn eine Klinik einfach Maßnahmen durchführt, die nachweislich überhaupt nichts gebracht haben können, soll sie dafür selbst zahlen. Das würde das Problem sehr schnell lösen."
Brockhaus: "Herr Kubicki, damit würden Sie ja sogar weiter gehen als Streeck!"
Kubicki: "Nein, ich rücke nur den Fokus zurecht. Therapieerfolg, nicht Alter! Es geht um Maßnahmen, die keinen Erfolg haben können. Das Alterskriterium stört mich immens. Und das Schlimmste ist: Karl Lauterbach gibt mir plötzlich recht. Karl Lauterbach und ich sind einer Meinung. Das ist wirklich ein Schlag ins Gesicht."
"Kubicki und Lauterbach plötzlich auf derselben Seite"
Brockhaus: "Na, da hat Herr Streeck doch etwas Einmaliges geschafft: Kubicki und Lauterbach plötzlich auf derselben Seite. Das hat ja sonst niemand geschafft."
Kubicki: "Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, sage ich ihm: 'Hendrik, was hast du mir angetan?'"
Brockhaus: "Machen Sie das – und der Kern der Debatte sollte weiter öffentlich diskutiert werden: Wie stärken wir Palliativmedizin statt Übertherapie aus ökonomischen Gründen?"
Nun interessiert mich, was Sie denken, liebe Leserinnen und Leser: Sind Sie diese Woche Team Kubicki, oder Team Brockhaus? Wie blicken Sie auf die Aussagen von Hendrik Streeck?
Seien Sie sich gewiss: Ich lese immer alle Kommentare, Mails und Nachrichten. Wenn Sie mögen, lesen wir uns nächste Woche wieder. Was ich mir wünsche: Debattieren Sie! Respektieren Sie nicht bloß die Meinung des anderen – zelebrieren Sie sie!
Ihre Nena Brockhaus
Über die Kolumnistin
Nena Brockhaus, geboren 1992, ist Wirtschaftsjournalistin, Fernsehmoderatorin, politische Kommentatorin und fünffache SPIEGEL-Bestsellerautorin (Unfollow, Pretty Happy, Ich bin nicht grün, Alte Weise Männer, Mehr Geld als Verstand). Ihr aktuelles Buch MGAV stieg auf Platz eins der SPIEGEL-Bestsellerliste ein. Nach Stationen bei Handelsblatt, Wirtschaftswoche und Bunte moderierte sie für BILD die tägliche Polit-Talkshow Viertel nach Acht. Seit 2024 kommentiert Brockhaus für WELT TV wöchentlich die deutsche Innenpolitik. Mit ihrer Kolumne „Nena und die andere Meinung“ für FOCUS online möchte sie zu einem differenzierten Meinungsbild in unserer Gesellschaft beitragen – gerne auch mit unpopulären Thesen und der Erweiterung des Sagbaren.