Die Fakten am Morgen
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Der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann erzählte mir neulich einen Witz. Mir war er neu – was wohl beweist: Ich bin ein Kind der alten Bundesrepublik. Oder ich vergesse Witze einfach zu schnell. Er geht jedenfalls so: Wann begegnet ein Ostdeutscher einem Westdeutschen? Antwort: Entweder er trifft seinen Vermieter, seinen Chef – oder er steht vor Gericht. Das Lachen bleibt einem beim Blick auf die Statistik im Hals stecken.
Auch 36 Jahre nach dem Mauerfall gilt: Die knapp 20 Prozent Ostdeutschen sind in Führungspositionen von Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Medien „strukturell benachteiligt“. Mit anderen Worten: rar. Laut Elitenmonitor (untersucht rund 3000 Spitzenpositionen in zwölf Sektoren) beträgt der Anteil von Führungskräften aus dem Osten bei den 100 größten deutschen Unternehmen exakt null Prozent.
Suchbild bei der Einheitsfeier
Ebenso groß war dieses Jahr bekanntlich der ostdeutsche Anteil auf dem offiziellen, neunköpfigen Gruppenfoto zum 3. Oktober. Das lässt sich natürlich mit protokollarischen Zwängen, dem Ort (Saarland) und überhaupt erklären. Der Punkt ist: Es sollte gar nicht erst erklärt werden müssen.
In dem Bestseller „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ beschreibt Autor Oschmann bewusst pointiert manche Ursachen und Folgen dieser fehlenden Sichtbarkeit. Seine Hauptkritik: Der Westen begreift sich als Norm und sieht den Osten als Abweichung davon. Der anders – also falsch – tickt.
Doppelstandards Ost-West
In einer Diskussion in Bonn vergangene Woche beschrieb der Kafka-Experte, wie östliche AfD-Erfolge vielfach mit „eh alles Nazis da“ kommentiert werden. Wenn dieselbe Partei aber in Hessen zweitstärkste Kraft werde oder in Gelsenkirchen mit 29,92 Prozent fast die SPD überhole, suche er vergeblich Schlagzeilen über ein „braunes Hessen“oder „Nazis im Ruhrgebiet“.
Ich kann nicht widersprechen. Wenn ich aber an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 denke, dann habe ich deutsch-deutsche Freudentränen vor Augen. Und bin beeindruckt, wie viel Blühendes seither entstanden ist.
Bis heute machen Westdeutsche im Umgang mit dem Osten einen Fehler
Nur hätten wir uns wohl kaum vorstellen können, wenn wir damals ins Jahr 2025 vorgespult hätten, dass Deutsche noch immer in den Kategorien „wir“ und „die“ übereinander reden. Oft geprägt von Enttäuschung, Unverständnis, Kränkung oder Gleichgültigkeit.
Der Mauerfall bleibt das schönste Ereignis unserer Geschichte. Aber dieser Superlativ schafft noch kein emotional geeintes Land. Helfen dabei würde zum Beispiel, wenn beim Stichwort „Diversity“ nicht allein Frauen, Ethnie und sexuelle Orientierung in den Sinn kommen – sondern auch die weiterhin unterrepräsentierten Deutschen aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und Berlin (Ost).
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