Hebammen schlagen Alarm: ‚Wir lieben unseren Beruf – aber so geht es nicht weiter‘

Wer die Ergebnisse der neuen Hebammenstudie vom Institut für Zukunftspsychologie der Sigmund Freud PrivatUniversität und der opta data Zukunfts Stiftung aufmerksam liest, erkennt schnell: Es geht hier nicht nur um einen Beruf, sondern um einen Brennpunkt gesellschaftlicher Zukunft. Die Lage der Hebammen in Deutschland ist ein Spiegel für das, was wir als Nation über Leben, Geburt und Verantwortung denken.

Und was wir zu lange übersehen haben. Denn die Zahlen und Stimmen, die diese Studie versammelt, sprechen eine klare Sprache: Die Hebammenarbeit ist existenziell wichtig und zugleich strukturell gefährdet. Sie wird gebraucht wie nie zuvor, aber systematisch unter Wert behandelt. Das ist nicht nur eine berufspolitische Schieflage. Es ist ein eklatantes Risiko für das Gemeinwesen.

Hebammen begleiten nicht einfach Geburten. Sie halten Familien zusammen. Sie stützen werdende Mütter, sie beraten Väter, sie erkennen Krisen, sie fangen Unsicherheiten auf. Sie sind Bezugspersonen in einem Moment größter Verletzlichkeit und größter Hoffnung.

Sie kennen die Sorgen der Frauen, die zum ersten Mal schwanger sind. Sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn ein Kind nicht bleibt. Sie hören zu, wo viele weghören. Sie wissen, wie Vertrauen wächst und wie schnell es zerstört werden kann. Ihre Arbeit geschieht im Verborgenen, aber sie ist von großem öffentlichem Wert.

Als Soziologe forscht Thomas Druyen seit 30 Jahren die psychologischen Auswirkungen von Wandel und leitet zwei Institute an der Sigmund Freud Universität in Wien. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Diese Studie zeigt: Die meisten Hebammen lieben ihren Beruf. Sie sehen Sinn in dem, was sie tun. Aber fast die Hälfte denkt trotzdem über einen Ausstieg nach. Warum? Weil die Bedingungen nicht stimmen. Weil Wertschätzung fehlt. Weil Bürokratie überhandnimmt. Weil ihre Belastungen wachsen, während ihre Einflussmöglichkeiten stagnieren.

Und weil die Gesellschaft zwar den Nutzen ihrer Arbeit empfängt, aber selten deren Mühen anerkennt. Diese Kluft zwischen Bedeutung und Behandlung ist nicht nur ungerecht. Sie ist gefährlich. Denn eine Gesellschaft, die ihre Geburtshelferinnen nicht schützt, gefährdet ihre eigene Erneuerung.

Warum Hebammen an ihre Grenzen stoßen

Deutschland kennt seit Jahrzehnten den demografischen Einschnitt. Die Geburtenrate bleibt niedrig, während die Bevölkerung altert. Und obwohl fast alle politischen Strategien von der Notwendigkeit des „Nachwuchses“ sprechen, fehlt der Blick auf die Realität werdender Eltern. Man kann Kinder nicht bestellen wie ein Produkt. Menschen entscheiden sich für Kinder, wenn die Umstände und die Zukunftsaussichten stimmen.Wenn sie sich sicher fühlen. Wenn sie wissen, dass sie nicht allein gelassen werden.

Und genau hier kommen Hebammen ins Spiel. Sie geben werdenden Eltern Orientierung, Halt und Fachwissen. Sie können Ängste abbauen und Selbstvertrauen stärken. Sie sind nicht nur Geburtsbegleiterinnen, sondern Zukunftsbegleiterinnen.

Was die Studie ebenfalls zeigt: Hebammen denken weiter. Sie haben Ideen, Visionen, Reformvorschläge. Sie schlagen vor, als Familienberaterinnen dauerhaft tätig zu sein, auch über die Geburt hinaus. Sie wünschen sich interdisziplinäre Netzwerke, wohnortnahe Angebote, neue Formen der Betreuung.

Warum Hebammen die Zukunft unserer Gesellschaft sichern

Sie sehen die gesellschaftliche Vielfalt, in der sie arbeiten. Das reicht von queeren Eltern über Alleinerziehende bis zu Mehr-Eltern-Konstellationen und sie stellen sich darauf ein. Sie erkennen früh, wo Familien scheitern könnten, wo Kinder gefährdet sind, wo Einsamkeit überhandnimmt. Und sie handeln meist schneller als jede Behörde.

Gleichzeitig zeigen sie hohe Offenheit für digitale Werkzeuge. Sie wünschen sich administrative Entlastung durch Künstliche Intelligenz, sprachgesteuerte Dokumentation, intelligente Dienstpläne.

Sie wollen Zeit für das gewinnen, was nicht digitalisierbar ist: das Gespräch, die Beziehung, die Berührung. Sie lehnen Technik nicht ab, aber sie stellen klar: Der Kern ihrer Arbeit bleibt menschlich. Diese Haltung ist nicht rückwärtsgewandt, sondern weitsichtig.

Was aus dieser Studie spricht, ist der leise Schrei einer Berufsgruppe, die mitten im Leben steht, aber am Rand der politischen Aufmerksamkeit bleibt. Es ist ein Schrei nach Anerkennung, aber auch ein Ruf zur Vernunft. Denn wenn wir als Gesellschaft zukunftsfähig bleiben wollen, müssen wir dort investieren, wo das Leben beginnt: In die Bedingungen der Geburt und die Menschen, die sie begleiten.

Hebammen sind keine romantische Randerscheinung. Sie sind systemrelevant im besten Sinn. Ihre Arbeit trägt Familien und starke Familien tragen Gesellschaften. Wer das verstanden hat, wird sie nicht länger ignorieren. Wer es noch nicht verstanden hat, sollte sich damit auseinandersetzen. Jetzt. Nach intensiver Beschäftigung kann ich sagen: Zukunft beginnt nicht im Parlament, sondern im Kreißsaal.

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    Bildquelle: Thomas Druyen

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