Seit sich die Bundesregierung um Kanzler Friedrich Merz (CDU) und seinen Vize Lars Klingbeil (SPD) vor zwei Wochen auf ein Ende des Bürgergelds geeinigt hat, diskutieren Politiker und Experten die Folgen der Reform. Kritiker nennen vor allem drei Sorgen, die ihnen die neue Grundsicherung bereitet.
Sorge 1: Die Grundsicherung wird sogar teurer
Das macht die Regierung: Das Bürgergeld sei zu teuer, kritisierten lange CDU und CSU. Der Staat müsse sparen und dafür auch bei den Sozialleistungen ansetzen: niedrigere Sätze, schnellere Kürzungen.
Beides hat die Koalition nun beschlossen. Bundeskanzler Merz will so zehn Prozent der Kosten des ehemaligen Bürgergelds einsparen. Das entspräche rund fünf Milliarden Euro pro Jahr.
Das sagen Kritiker: Experten erwarten laut SZ-Recherchen nur Einsparungen von 0,2 Prozent.
Die Grundsicherung könnte den Staat sogar mehr kosten als das Bürgergeld, kritisiert Marcel Fratzscher, Chef des SPD-nahen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in der "Zeit": Druck bringe Menschen oft in die falschen Jobs. Diese verlieren sie schneller und kosten den Staat dann wieder Geld. Das belegen Erfahrungen.
Das steckt dahinter: Alle Parteien wollen möglichst wenig Bürgergeld auszahlen. Sie unterscheiden sich darin, wie sie dieses Ziel hauptsächlich verfolgen:
- Die Union warb im Wahlkampf vor allem für Leistungskürzungen. Vorteil: Bekommt jeder Bürgergeldempfänger weniger Geld, spart der Staat sicher. Nachteil: Die Sparmöglichkeit ist begrenzt. Das Grundgesetz verpflichtet jede Regierung, Bürgergeldempfängern mindestens das Existenzminimum auszuzahlen. Das Bürgergeld lag bereits nahe am Existenzminimum. Deswegen sparen weitere Kürzungen wenig.
- Die SPD wirbt dafür, möglichst viele Bürgergeldempfänger in Arbeit zu bringen: Weiterbildung, Vermittlung, Hilfe. Vorteil: Kann ein ehemaliger Bürgergeldempfänger von seinem Job leben, spart der Staat das gesamte Bürgergeld und bekommt Steuern. Die Sparchance ist immens. Nachteil: Wie viele Menschen Bürgergeld beziehen, hängt vor allem von der Wirtschaftslage ab. Diese liegt nicht allein in den Händen der Regierung, sondern auch an USA und China, Kriegen und technischen Fortschritten. Wer sich darauf verlässt, mehr Leute in Jobs zu vermitteln, steht bei einer überraschenden Krise wie 2008 vor immensen Problemen. Dann gibt es womöglich keine Jobs. Die Sparchance ist also immens, aber unsicher.
In der Praxis vermischen sich beide Ansätze: Auch Kanzler Merz plant in seiner Sparrechnung hunderttausende Bürgergeldempfänger ein, die durch die Grundsicherung Arbeit finden. Nur setzt er im Gegensatz zu Fratzscher auf Druck statt Förderung. Zuckerbrot (SPD) oder Peitsche (Union) – welchen Ansatz Deutschland stärker gewichtet, bleibt eine politische Entscheidung.
Sorge 2: Eine Klagewelle verhindert Kürzungen
Das macht die Regierung: Wie angesprochen, dürfen Jobcenter Bürgergeld-Empfängern jetzt schneller und stärker Leistungen kürzen. Lässt ein Empfänger mehrere Termine platzen, dürfen die Jobcenter ihm die Leistungen ganz streichen, inklusive Miete. Das alles halten Jobcenter und Empfänger in einem Vertrag fest.
Das sagen Kritiker: Verträge können beklagt werden. Siegurd Heinze, parteiloser Landrat im Oberspreewald-Lausitz-Kreis und Vorsitzender des Brandenburger Landkreistags, fürchtet bei "Bild" enorme Belastungen für Gerichte. Er spricht von einem "Bürokratie-Monster", "Verfahrensverzögerungen" und "Frust".
Grund zum Klagen haben alle von Kürzungen Betroffenen, sagen Kritiker: Während das Gericht berät, bekommen sie ihren Satz weiter voll ausgezahlt. Viele könnten rein in die Grundsicherung, klagen und die Sache aussitzen, so die Sorge. Der Vertrag zwischen Jobcenter und Bürgergeld erschwert Kürzungen dann sogar, statt sie wie geplant zu erleichtern.
Die Grundsicherung liefert außerdem neue Ansätze für Klagen, wie jedes neue Gesetz. Betroffene könnten vor Gericht beispielsweise argumentieren, eine Vollkürzung des Bürgergelds inklusive Miete widerspreche der Pflicht zur Sicherung des Existenzminimums, die das Grundgesetz verlangt. Grund und Chance zum Klagen könnten einige Empfänger also haben.
Das steckt dahinter: Unterstützer der Reform wie Dennis Rehbein, neuer CDU-Bürgermeister von Hagen (NRW), bleiben entspannt. Klagen gebe es im Sozialbereich bereits. "Die Gefahr einer Klagewelle sehe ich in dieser Dramatik nicht.“
Hierfür spricht: Die ersten Klagen liefern Präzedenzfälle, die weitere Klagen erschweren. Zweitens gibt es nur rund 14.000 Totalverweigerer, denen eine Totalkürzung drohen könnte. Nur ein Teil von ihnen dürfte tatsächlich betroffen sein, nur ein Teil der Betroffenen klagen und nur ein Teil gleichzeitig.
Andererseits stemmen sich selbst Teile der Regierungspartei SPD in einem Mitgliederbegehren gegen die Grundsicherung. "Die SPD darf keine Politik mittragen, die Armut bestraft", zitiert der "Spiegel" aus dem Papier. Widerstand muss die Regierung also erwarten. Ein Teil davon dürfte vor Gericht enden.
Sorge 3: Alles viel zu kompliziert
Das plant die Regierung: Alle Empfänger der Grundsicherung schließen einen Vertrag mit dem Jobcenter, der Rechte und Pflichten klar regelt. Bislang schlossen die Jobcenter diese Verträge erst bei den ersten Sanktionen. Sie schließen jetzt also mehr Verträge.
Das sagen Kritiker: Mehr Verträge, mehr Aufwand. „Wenn wir ein rechtsverbindliches Dokument zwischen Leistungsempfänger und Jobcenter haben wollen, müssen beide Seiten auch exakt wissen, was sie da genau in welcher Sprache unterschreiben“, sagt Hagens Neubürgermeister Rehbein. Spricht der Beamte nur Deutsch und der Leistungsempfänger nur eine andere Sprache, wird das schwer.
Das steckt dahinter: Die Umstellung von Bürgergeld auf Grundsicherung beschert der Verwaltung einen erheblichen Mehraufwand, das scheint sicher. Sie muss Probleme lösen, bevor sie zu Klagen führen. In Zeiten Künstlicher Intelligenz, automatischer Übersetzer und anderer Hilfsmittel sehen Befürworter der Reform darin jedoch machbare Herausforderungen.
Wer behält recht? Abwarten
Ein endgültiges Urteil über die Grundsicherung fällt derzeit schwer.
- Ob Kritiker oder Verteidiger der Reform recht behalten, hängt vor allem davon ab, ob die Grundsicherung mehr Menschen in Arbeit bringt oder weniger.
- Der Arbeitsmarkt hängt vor allem von Wirtschaft und Weltpolitik ab. In zehn Jahren kann niemand sicher sagen, ob Bürgergeld oder Grundsicherung mehr Menschen zu Jobs verholfen hätten.
Wahrscheinlich entscheidet langfristig also ein Gefühl über die Grundsicherung, wie bei ähnlichen Reformen. Hartz IV galt als Zwang zur Armut, das Bürgergeld als verwöhnerisch komfortabel. Beides lag weit neben der Realität. Dennoch bestimmten diese Gefühle die Politik.
Egal welche Erzählung sich bei der Grundsicherung durchsetzt: Die wirtschaftliche und finanzielle Zukunft der Bundesrepublik entscheidet sich recht sicher an anderer Stelle als der Grundsicherung.