Nach langem öffentlichen Zoff gab es dann doch eine Einigung beim Thema Wehrdienst. Union und SPD verständigten sich auf ein Vierstufen-Modell. Die Freiwilligkeit soll erhalten bleiben. Doch weitere Konflikte, etwa bei der Reform des Bürgergelds zur Grundsicherung oder der Rentenreform sind nicht ausgeräumt und schwelen weiter. Die "Stadtbild"-Debatte, in der beide Parteien über Kreuz liegen, hört nicht auf, sondern gewinnt an Fahrt.
Dabei wollte die schwarz-rote Regierung um Kanzler Friedrich Merz alles anders machen: Auf keinen Fall wollte sie so werden wie die Ampel, die sich gerne in der Öffentlichkeit zoffte und schließlich zerbrach.
Nach fast einem halben Jahr an der Macht tun sich die ersten tiefen Gräben zwischen Union und SPD auf. Die Koalitionsspitzen um die SPD-Chefs Lars Klingbeil und Bärbel Bas auf der einen Seite sowie Kanzler und CDU-Chef Friedrich Merz auf der anderen Seite geben nach außen hin noch ein friedliches Bild ab. Doch in der zweiten und dritten Reihe der Fraktionen rumort es gewaltig.
SPD-Mitglied zur CDU: "Zugeständnisse beim Bürgergeld gemacht"
Mitglieder beider Parteien sprechen von der ersten Ernüchterung, der ersten Enttäuschung, dem ersten Kater. Auch wenn noch niemand bisher den Bruch kommen sieht.
Ein Mitglied der SPD-Fraktion sagt zu FOCUS online: "Es gibt auf beiden Seiten Leute, die sind mit hohen Erwartungen in diese Koalition gestartet und stellen jetzt fest, dass sich nicht alles gleich erfüllt. Die AfD wird in den Umfragen nicht kleiner, CDU und SPD macht die Arbeit in der Koalition in den Umfragen nicht erfolgreicher. Der Wirtschaft geht es nicht besser. Vieles geht nicht so schnell wie erhofft."
Ein zweites Fraktionsmitglied der SPD beschreibt die Stimmung in den eigenen Reihen als "mittelmäßig". Man sei enttäuscht von der Union. "Trotz vieler Unterschiede, hatten wir die Erwartung, mit der CDU professionell zusammenzuarbeiten. Unsere Erwartung wird nicht erfüllt. Manches läuft ziemlich unprofessionell."
Gemeint ist beispielsweise der Protest einzelner junger Unionsabgeordneter gegen die geplante Rentenreform von SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas. Die Kosten seien zu hoch, argumentierten sie und wollten das Vorhaben blockieren. Es sei nicht das erste Mal, dass CDU-Abgeordnete aus der Reihe tanzen. "Wir fragen uns, ob der Fraktionschef den Laden noch im Griff hat", so zweite Mitglied zu FOCUS online.
CDU schießt zurück: "Jens Spahn hat die Fraktion im Griff"
Den Vorwurf will die Union nicht auf sich sitzen lassen. Sepp Müller, Abgeordneter aus Sachsen-Anhalt, schießt öffentlich zurück. Er sagt FOCUS online: "Sehr wohl hat Jens Spahn die Fraktion im Griff. Die geplante Rentenreform ging über das, was im Koalitionsvertrag vereinbart war, hinaus. Die Abgeordneten haben da einen Punkt."
Müller gesteht allerdings ein: "Nicht alles ist jetzt glücklich gelaufen. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Da hat sich der eine oder andere erschrocken. Doch wir und die SPD sind Arbeitskollegen. So ist das eben." Müller zählt auf, dass man beim Bauturbo und bei der neuen Grundsicherung schon viel erreicht habe. "Ich sehe es nicht dramatisch. Wir haben mehr geschafft als die Ampel in dem Zeitraum und wir wissen, um was es geht."
Auch SPD-Fraktionschef Miersch hat Kritiker in den eigenen Reihen
Inzwischen ringt das Führungspersonal um die Kontrolle in den eigenen Reihen. Denn nicht nur Jens Spahn wird vorgeworfen, die eigenen Leute nicht zu zähmen. Der als blass geltende SPD-Fraktionschef Matthias Miersch musste durchgreifen. In einem Schreiben fordert er die Mitglieder zu Respekt und Augenmaß in der "Stadtbild"-Debatte auf. Die Zahl seiner internen Kritiker reißt nicht ab. Er habe seine Führungsrolle noch nicht gefunden, schreibt "The Pioneer".
Das zweite Mitglied der SPD-Fraktion sagt dazu FOCUS online: "Wir glauben auch, dass wir es mit der Union hinbekommen. Doch wir haben bei der Bürgergeld-Reform viele Zugeständnisse gemacht und erwarten die gleiche Kompromissbereitschaft von der Union, die im Moment die eigenen Verabredungen torpediert."
CDU fordert beim Thema Bürgergeld "weniger Oppositionsgebaren"
Offenbar ist der Streit bei der Bürgergeld-Reform für die SPD noch nicht vom Tisch: Teile der Partei wenden sich jetzt mit einem Mitgliederbegehren gegen die Reform, wie der "Spiegel" berichtet. Begründung: Die geplanten Sanktionen, auf die man sich im Koalitionsausschuss geeinigt hat, gehen einigen in der SPD jetzt doch zu weit.
Dieses Gebaren wie bei der Änderung des Bürgergelds in Grundsicherung sorgt für ordentliches Augenrollen in der Unionsfraktion. Eine bekannte CDU-Abgeordnete erklärt FOCUS online auf Anfrage: "Die SPD muss verstehen, dass es in einer Regierungskoalition nicht darum geht, das SPD-Grundsatzprogramm durchzudrücken, sondern darum, tragfähige Kompromisse für die Zukunft unseres Landes zu finden. Weniger Empörung, weniger Oppositionsgebaren, mehr Problemlösung." Die Koalition bezeichnet sie aber als krisenfest.
SPD will "Stadtbild"-Gipfel, Union lehnt ab
Bleibt die nicht enden wollende "Stadtbild"-Debatte. Zuerst ging die SPD-Abgeordnete Wiebke Esdar, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Sprecherin der Parlamentarischen Linken, gegen die Merz-Äußerung auf die Straße und demonstrierte, was für allgemeines Kopfschütteln sorgte. Am Montag protestierte die SPD mit einem eigenen Acht-Punkte-Plan.
Einigen Linken in der SPD gingen Merz' Aussagen erstens zu weit und waren zweitens zu unkonkret. Die Kritik am Kanzler reißt nicht ab. Im Gegenteil, immer mehr melden sich zu Wort. "Ich habe den Bundeskanzler zu Klarheit in der Stadtbild-Debatte aufgefordert. Denn seine Formulierungen schaffen Unsicherheit und öffnen Raum für Ressentiments", teilt der SPD-Politiker und Abgeordnete Adis Ahmetovic mit. Er hat mit neun weiteren Abgeordneten den Acht-Punkte-Plan zur "Stadtbild"-Debatte verfasst und fordert einen Stadtbild-Gipfel. Rückendeckung erhält er von Fraktionschef Matthias Miersch.
Die Union lehnt einen Gipfel ab. "Der Bundeskanzler hat die Problemlage klar benannt, eine weitere Erörterung ist nicht nötig", sagte Fraktionsgeschäftsführer Steffen Bilger. Angesprochen auf das Verhalten der SPD, heißt es aus CDU-Regierungskreisen zu FOCUS online: "Es gibt sehr viel Unverständnis in unseren Reihen." Fraktionschef Spahn raunte bereits öffentlich: "Opposition in der Regierung – das hat noch nie funktioniert."