„Kriegstüchtig“ ganz im Sinne von Boris Pistorius ist das jüngste Nato-Mitglied Finnland schon lange. Fünfeinhalb Millionen Einwohner, 900.000 Reservisten: Jeder sechste Einwohner ein tatsächlicher oder potentieller Kämpfer gegen die Russen – so kann es aussehen, wenn ein Land über Jahrzehnte schlechte Erfahrungen gesammelt hat mit seinem russischen Nachbarn.
Wie Deutschland. Eigentlich auch. Denn es ist erst 35 Jahre her, da war ein beachtlicher Teil Deutschlands de facto Teil der Sowjetunion, de Jure Teil des Warschauer Pakts – die DDR. Es war besetztes Land. Aber keine kollektive Negativ-Erfahrung hat die deutsche Bevölkerung so schnell vergessen oder verdrängt wie diese.
Wenn der Frieden keiner mehr ist
Und deshalb fällt der Aufschlag in der neuen Realität eines kalt-heißen Krieges so hart aus. Pistorius, Deutschlands immer noch beliebtester Politiker, schickt gerade Kampfjets an die polnische Grenze. Frieden sieht anders aus.
Und schon an diesem Freitag könnte sich die Waagschale noch ein Stück mehr neigen Richtung Krieg. Falls Donald Trump den Ukrainern Tomahawk-Marschflugkörper zur Verfügung stellt. Wolodymyr Selenskij könnte die tödlichen Mittelstreckenraketen bis zu 2500 Kilometer weit fliegen lassen. Die Tomahawks könnten Atomraketen tragen - die die Ukraine nicht hat – Russland aber schon. Kein Wunder, dass die Nervosität steigt – auf allen Seiten.
Anders als Finnland ist Deutschland nicht kriegstüchtig, sondern struktur-pazifistisch. „Lieber rot als tot“ ist ein Slogan aus Deutschland. Eine linke Parole. Pazifistisch zu sein und dabei verständnisvoll zu sein gegenüber Russland, ist gleichfalls ein linkes Erbe – ein sozialdemokratisches.
Das allerdings mehr und mehr von Rechtsaußen verwaltet wird. In der AfD hat sich gerade Björn Höcke durchgesetzt – die Rechten sind gegen eine Wiedereinführung der Wehrpflicht, gerade auch wegen des Krieges in der Ukraine. Sie lehnen diese Abschreckungsmaßnahme ab – in einer Situation, in der die Abschreckungsnotwendigkeit gerade gewaltig zu wachsen scheint. Soll das jetzt der neue deutsche Patriotismus sein?
Wehrpflicht-Debatte: 80.000 Soldaten fehlen der Bundeswehr
Deutschland befinde sich nicht mehr im Frieden, hat Pistorius zuletzt gesagt. Angesichts der „hybriden“ Angriffe durch Russland auf Nato-Gebiet – Drohnen über Polen etc. – muss man zu diesem Befund kommen. Nur: Müsste dann nicht der deutsche Verteidigungsminister die Wehrpflicht so schnell wie möglich einführen? Immerhin fehlen der Bundeswehr in den nächsten Jahren 80.000 Soldaten.
Das ist der logische Bruchpunkt, den sich diese Regierung – unter der Regie der SPD - gerade leistet. Sie beschwört pathetisch die Kriegsgefahr, aber deren Eindämmung soll gekoppelt sein an die Leistungsfähigkeit einer Wehrfassungsbürokratie in Kombination mit der Bauindustrie, die erst einmal für Soldatenunterkünfte sorgen muss. Es klingt vertraut, typisch deutsch inzwischen: Der Blick für das Wesentliche scheint verloren gegangen zu sein.
Kann man sich eine Balgerei ums Kleingedruckte leisten, wenn der Russe vor der Tür steht? Im Moment sieht es so aus, als wäre den Koalitionspartnern die eigene Befindlichkeit wichtiger als die herannahende Kriegsgefahr.
Die Koalition hat sich verheddert
In der Koalition sieht es so aus: Die SPD sträubt sich gegen eine Wehrpflicht. Falls die dann doch kommt, muss sie schon unausweichlich sein. Auf keinen Fall soll der eigene Bundesverteidigungsminister sie proaktiv betreiben. Dabei hat die SPD schon einmal einen folgenschweren Fehler im Zusammenhang mit der deutschen Wehrtüchtigkeit begangen – als sie die Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen verhinderte. Der Krieg in der Ukraine lehrt gerade, wie wichtig Drohnen sind. Man hätte es wissen können, hätte man es wissen wollen.
Die CSU möchte die Wehrpflicht am liebsten gestern wieder einführen. Markus Söder hält Pistorius ein „Wischiwaschi“-Konzept vor und gibt den harten Hund. Dabei haben nicht alle vergessen, dass es erst 14 Jahre her ist, dass ein CSU-Hoffnungsträger hart an der Grenze zum Erlöser namens Karl Theodor zu Guttenberg die Wehrpflicht abschaffte, genauer: aussetzte.
In der Zone Zwischendrin bewegt sich der Inhaber der Richtlinienkompetenz, der im V-Fall auch der Oberkommandierende wäre: Friedrich Merz sagt, man wolle es mit der Wehrpflicht „zunächst freiwillig“ versuchen. Aber, so Merz: „Ich vermute, es wird bei der Freiwilligkeit allein nicht bleiben.“ Vor den unschönen Vokabeln „Pflicht“ und „Zwang“ schreckt der CDU-Vorsitzende einstweilen zurück – auch aus Rücksicht auf die SPD. Die ihm sehr wichtig ist. Wichtiger als Putin?
Pistorius hat nun eine Art Zweifrontenkrieg an der Hacke – hier die Unionsleute, die ihn wehrerfüllt treiben, dort seine SPD, die in wehrpflichtskeptisch bremst.
Man muss Pistorius verstehen: Gewinnen kann er, derart eingekeilt zwischen rotem Baum und schwarzer Borke, kaum. Formal gesehen hat der Minister sogar recht: Üblicherweise macht das Fachressort einen Gesetzentwurf, der geht dann ins Parlament und wird von den Koalitionsfraktionen verändert – oder auch nicht. Jedenfalls kommt keiner aus dem Bundestag so hinaus, wie er von der Administration dort hineingereicht wurde.
Dass ein Minister einen Gesetzentwurf anfertigen lässt, dazu in einer zentralen Angelegenheit von Frieden und Abschreckung und eben Kriegstüchtigkeit, in Zeiten großer Not dazu, und dann miterleben muss, wie der selbst von den eigenen Leuten geschreddert wird: Das ist eher neu. Und kratzt erkennbar am kräftigen Ego von Pistorius. Schaden dürfte es auch seiner Reputation.
Pistorius. Stärke wird zur Schwäche
Andererseits hätte Pistorius auch darauf verzichten können, den Konflikt noch selbst, mittels eines offenbar durchaus militanten Auftritts in seiner Fraktion, anzuheizen. Denn: Wenn im Parlament sein Gesetzentwurf verändert wird, kann der Minister ohnehin nichts dagegen machen. Pistorius hätte das geschmeidiger lösen können.
Es wäre ein Akt politisch-taktischer Klugheit gewesen, einfach mal zu schweigen.
Die Leute da draußen schätzen Pistorius – als schwurbelfreien Klartextmann. Eben jene Gabe der massenkompatiblen Kommunikation könnte ihm nun, da es um seine Fachkollegen mehr geht als um die deutsche Öffentlichkeit, zum Verhängnis werden. Seine stärkste Seite könnte in diesem Verfahren zu seiner größten Schwäche werden.
So addieren sich gerade die Schwächen in dieser Koalition. Über die sich nur einer wirklich freuen kann. Der Mann in Moskau.
Wer findet die richtigen Worte für die Jungen?
Einige letzte Bemerkungen zu jenen, um die es eigentlich geht: Forsa hat ermittelt, dass 60 Prozent der jungen Menschen gegen eine Wehrpflicht sind. Sie haben grundsätzlich auch recht: Krieg ist Scheiße.
Wenn jetzt diese Ansammlung älterer Frauen und Männer im Parlament über das Schicksal der jüngeren entscheidet: Hat mit denen mal jemand geredet?
Schon bei der Rente haben die Jungen nur eine schwache Stimme – die Älteren machen Politik für die Älteren. Bei der Wehrpflicht, einer ungleich existenzielleren Entscheidung, droht sich dieses Muster fatal zu wiederholen.
Zur Erinnerung: Noch nie hat eine Bundesregierung so wenig Vertrauen genossen wie die von Friedrich Merz und Lars Klingbeil. Es ist die denkbar schlechteste Ausgangssituation, um einer ganzen Bevölkerungsgruppe in deren Lebensplanung zu greifen.
Das scheint eines der großen Probleme zu sein: Die Selbstverständlichkeit, mit der eine privilegierte Elite Menschen einen neuen Lebensentwurf vorschreibt, ohne mit ihnen in einen ernsthaften Austausch zu kommen. Über Patriotismus zum Beispiel.
Das haben die Finnen, zum Wohl ihres Landes, wirklich besser hingekriegt.