Beim Blick auf die Aufzeichnungen seiner Überwachungskameras wird Fabian Eichemeyer immer wieder böse überrascht. In seinem Hamburger Rewe-Markt im wohlhabenden Bezirk Blankenese erlebt der 37-Jährige eine Flut von Diebstählen, mit der er nie gerechnet hätte. Das erzählt der Rewe-Händler in einem Interview mit dem "Hamburger Abendblatt".
Diebstähle in Blankenese: 50 Fälle, die meisten davon Frauen
Demnach betreibt Eichemeyer den Supermarkt bereits seit 2016 und hat über die Jahre eine große Zahl treuer Stammkundinnen und Stammkunden gewonnen. "Wir sind hier so was wie ein Nachbarschaftstreff“, erzählt er dem "Hamburger Abendblatt". "Unsere Kunden und wir kennen uns mit Namen und sprechen oft über private Angelegenheiten."
Genau deshalb treffe es ihn so hart, dass er in diesem Jahr bereits 50 Kunden beim Stehlen ertappt hat – die meisten davon Frauen. Besonders bitter: Nur die allerwenigsten Täter hätten überhaupt Reue gezeigt: "Die meisten haben mir Lügen und Ausreden aufgetischt", so der 37-Jährige.
Mann mit Porsche-Schlüssel lässt "Dom Pérignon" für 200 Euro mitgehen
So zum Beispiel ein elegant gekleideter Mann, der eine Flasche "Dom Pérignon" für knapp 200 Euro aus der geschlossenen Vitrine forderte – und währenddessen "mit einem Porsche-Schlüssel wedelte". Statt zur Kasse zu gehen, steckte er die Flasche unter die Jacke. Später stellte sich heraus: Der Schlüssel war eine Attrappe, ein angeblicher Zwillingsbruder, dem der Mann das Verbrechen in die Schuhe schieben wollte, existierte nicht.
Ein anderer Fall begann mit Auffälligkeiten bei der Inventur: Innerhalb weniger Wochen seien rund 58 Liter Traubensaft verschwunden, so Eichemeyer. Die Kamera über dem betroffenen Regal zeigte schließlich eine Kundin, die sechs Safttüten in eine große Tasche packte und sie aber nicht auf das Band legte. An der Kasse zahlte sie nur vier Tüten. Die geklaute Waren versteckte hinter ihrem Kind, das sie mitten in den Einkaufswagen gesetzt hatte.Nicht die ganze Ware aufs Band zu legen, sei ein beliebter Trick der Kunden.
Hohe Schadenssumme: Diebe mit genügend Geld ohne Reue
Dreist sind auch andere Versuche: Eine Kundin habe Rinderfilet im Wert von 30 Euro einfach in ihren Kapuzenpullover gesteckt und bei der Konfrontation gefordert, man könne einer „guten Kundin“ doch wohl "Natural-Rabatt" gewähren. Ein anderer Mann habe eine Rotweinflasche à 15 Euro mitgehen lassen und dies damit begründet, dass er "seinen Gästen keinen billigen Wein vorsetzen" könne.
Was all diese Fälle verbindet: Die Diebe könnten sich die Waren eigentlich leisten. Viele hätten den entstandenen Schaden anstandslos ersetzt, so Eichemeyer. "Eine Dame hat ohne mit der Wimper zu zucken 1000 Euro gezahlt. Sie hat also nicht aus Geldmangel geklaut." Und trotzdem: Es komme ihm langsam so vor, „als sei Klauen in Blankenese zum Volkssport geworden“.
Die Fälle aus Blankenese stehen exemplarisch für einen bundesweiten Trend. Nach Angaben des Kölner Handelsforschungsinstituts EHI verursachten Ladendiebstähle im vergangenen Jahr Schäden von 4,95 Milliarden Euro – ein Anstieg um drei Prozent gegenüber 2023. Rechnet man die Ausgaben für Prävention hinzu, steigt der jährliche Verlust auf rund sieben Milliarden Euro.
EHI-Daten und Kriminalstatistik: Entwicklung des Ladendiebstahls in Deutschland
Die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, dass 1997 bundesweit rund 700.000 Ladendiebstähle angezeigt wurden – fast 40 Prozent mehr als heute. Die Zahlen fielen lange, sogar in den Jahren der Finanzkrise. In der Pandemie erreichten sie den Tiefstand – doch seit dem Ende der Einschränkungen klettern sie wieder rasant nach oben und haben nun den höchsten Wert seit fast 20 Jahren erreicht. Der "Deutschlandfunk" berichtet, dass nur etwa 0,5 Prozent aller Diebstähle angezeigt werden. Hochgerechnet bedeutet das: Täglich verschwinden rund 100.000 Waren im Wert von durchschnittlich 117 Euro, ohne dass es jemand bemerkt.
Während früher vor allem Kleindiebstähle aufgefallen sind, verursachen professionelle Banden laut EHI heute rund 30 Prozent der Gesamtschäden – obwohl sie nur sechs Prozent der Täter ausmachen. Die Täter haben sich besonders auf hochprozentigen Alkohol spezialisiert. Neben Spirituosen sind laut dem Institut auch Markenbekleidung und Sportschuhe, Elektrogeräte und Zubehör, Tabakwaren und Kosmetika unter den meistgestohlenen Produkten im Einzelhandel.
Auch Fleisch und Molkereiprodukte stehen mittlerweile weit oben – ein mögliches Signal für finanzielle Belastungen vieler Haushalte.
Laut EHI befeuern mehrere Entwicklungen den Anstieg der Diebstähle: Nach der Pandemie sind wieder mehr Menschen unterwegs, während in vielen Läden weniger Personal arbeitet. Gleichzeitig setzen die stark gestiegenen Preise infolge der Inflation viele zusätzlich unter Druck. Selbstbedienungskassen erleichtern außerdem das Klauen – dort liegt die Diebstahlquote laut Studien 20 bis 30 Prozent höher als an normalen Kassen.
Einzelhandel Investitionen: Sicherheitsmaßnahmen und KI-Überwachung
Wie der "Deutschlandfunk" berichtet, investierte der Einzelhandel zuletzt 1,55 Milliarden Euro in Sicherheitsmaßnahmen – von Kameras über Sicherheitsetiketten bis zur Security. Am Ende aber fließen sowohl erwartete Verluste als auch Präventionskosten in die Preisgestaltung ein. Alle zahlen also mit.
Wegen überlasteter Justiz dauern Verfahren oft lange. Einige Bundesländer schaffen neue Stellen, gleichzeitig erproben Händler KI-basierte Systeme, die verdächtige Bewegungen erkennen sollen. Noch laufen die meisten Pilotprojekte, doch viele hoffen, dass intelligente Überwachung künftig Diebstähle früher stoppt.
Eichemeyer hat wegen der Diebstähle jährlich einen Schaden 60.000 Euro.Trotzdem möchte er viele seiner Kunden nicht dauerhaft verlieren, zeigt die meisten Diebe nicht an und erteilt nur selten Hausverbot. Er verstehe, dass manche mit den Preissteigerungen kämpfen. "Daher verurteile ich auch diejenigen nicht, die etwas haben mitgehen lassen“, macht er im „Hamburger Abendblatt“ deutlich. Er hoffe, dass das „für Blankenese typische dörfliche Miteinander" nicht dauerhaft unter den Diebstählen leidet.