Gestern am Abend, kurz vor 19 Uhr Ortszeit, erreichte die Tragödie der Familie B. aus Hamburg ihren Höhepunkt. Auch der Familienvater erlag wie schon seine zwei Kinder und seine Ehefrau den Folgen einer Vergiftung.
Kritik an Lebensmittelkontrollen: Präsident Erdoğan äußert sich
Nun meldete sich auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu Wort. Seine Regierung steht im Kreuzfeuer der Kritik. Ihr wird Nachlässigkeit bei Lebensmittelkontrollen und Verbraucherschutz vorgeworfen. Administrative Unfähigkeit und Korruption seien für Tragödien wie die der Familie B. verantwortlich, heißt es. Im Kontrast zu den markigen präsidialen Versprechungen zeigt sich, dass das in Verdacht stehende Kammerjägerunternehmen auch für weitere Vergiftungen verantwortlich ist.
Erdoğan nutzte am Montagabend nach der Kabinettssitzung seine Pressekonferenz, um seine Regierung zu verteidigen. Er erklärte: "Unser Kampf gegen diejenigen, die die Gesundheit unserer Bevölkerung gefährden, um mehr Geld zu verdienen, wird um jeden Preis mit derselben Entschlossenheit fortgesetzt."
Der Opposition warf er vor, sie habe in jüngster Vergangenheit die Regierung für striktes Vorgehen gegen Unternehmen, welche Verbraucher gefährden würden, kritisiert. Nun würde man ihm und seinen Ministern genau das Gegenteil vorwerfen.
Tourismus und Sicherheit: Image der Türkei in Gefahr
Für Erdoğan ist es auch eine Prestigefrage. Nicht nur sein Image ist in Gefahr. Die Tragödie in Istanbul und alle ihre Details werfen ein schlechtes Licht auf die Türkei als Hochburg des Tourismus. Wenn rund um ein Hotel inmitten der kulturgeschichtlich wichtigsten Sehenswürdigkeiten in einer der schönsten Metropolen der Welt Touristen nicht sicher vor fahrlässiger Vergiftung und Pfusch bei den Kontrollen sind, wo sind sie es dann?
Herzzerreißende Aufnahmen und Fragen zur ärztlichen Diagnose
In den türkischen Medien werden die letzten Fotos und Videos der Familie gezeigt. Es ist herzzerreißend, die lächelnden Kinder unverpixelt auf Schnappschüssen, die einen unbeschwerten Urlaub zeigen, zu sehen. Dazu kursiert ein Video von der Überwachungskamera des Hotels, das die Rückkehr der Familie vom ersten Krankenhausbesuch zeigt. Es sind visuelle Eindrücke, die das Gemüt der Türken mächtig erschüttern und sie wütend machen.
Hätten die Ärzte im ersten Krankenhaus mit einer besseren Diagnose die Familie retten können? Der Taxifahrer, der sie vor dem Hotel auflas und ins Hospital brachte, berichtet davon, dass die kleine dreijährige Tochter Blut erbrochen habe. Die ganze Familie habe sich während der Fahrt ununterbrochen übergeben müssen.
Kammerjäger setzte Gift schon mal in der Koranschule ein
Der am Dienstag veröffentlichte toxikologische Report belegt: Eine Lebensmittelvergiftung wird nun mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Die eigentliche Todesursache: Wohl eine chemische Vergiftung. Die Speisen, die die Familie konsumiert hatte, wurden analysiert. Muscheln und Kokoreç waren wahrscheinlich unbedenklich. Dabei ist anzumerken, dass die Proben bei den Händlern und Wirten von gleichen Speisen, jedoch mit 1,5 Tagen Verzögerung entnommen wurden. Sie entsprechen daher nicht exakt den von der Familie verzehrten Lebensmitteln, geben aber ein Indiz.
Ein weiteres Indiz lieferte die Journalistin Dilek Yaman Demir bereits vor Erscheinen des toxikologischen Berichts, die ihre Erkenntnisse über X, vormals Twitter, teilt. Demnach war der verhaftete Mitarbeiter des Schädlingsbekämpfungsunternehmens vor einiger Zeit schon einmal in einen Vergiftungsfall verwickelt. Er hatte in einer Koranschule im Stadtteil Fatih, in dem auch das Hotel liegt, ein Insektizid, Fumigas 57 TB, eingesetzt. Das Mittel enthält zu 57 Prozent Aluminiumphosphid – ein Gift, gegen das kein Gegenmittel gibt. Das gleiche Gift wurde mutmaßlich auf dem ersten Stockwerk des Harbor Suites Hotels Old City, wo die Familie B. wohnte, zur Bekämpfung von Bettwanzen eingesetzt.
Im Fall der Koranschule kam es zur Vergiftung eines Kindes, das stationär behandelt werden musste. Dabei stellte sich heraus, dass der nun Verdächtige zwar über ein Zertifikat zur Anwendung von Biozidprodukten verfügte, im Fall der Anwendung in der Koranschule jedoch ohne die erforderlichen Genehmigungen und Qualifikationsnachweise tätig wurde. Er gab seinerzeit seinen Fehler zu und wurde zu einem Bußgeld verdonnert. Offenbar hat er trotzdem erneut den gleichen "Fehler", der nun zumindest eine mutmaßliche fahrlässige Tötung wurde, begangen.
Erdoğan dürfte, wenn sich die Informationen der Journalistin bewahrheiten, alle Mühe haben, die von ihm propagierte Effektivität der Kontrollen und des Verbraucherschutzes zu beweisen. Zudem muss untersucht werden, warum das erste Hospital die todkranke Familie erneut in den verseuchten Raum des Hotels entließ.