Ukraine - Beginnt in Europa der Strategiewechsel?
Gleich mehrere hochrangige Nato-Militärs haben im Januar fast zeitgleich gewarnt, die Allianz müsse sich auf einen Konflikt mit Russland vorbereiten. „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass wir in Frieden leben“, warnte der niederländische Admiral und Vorsitzende des Nato-Militärausschusses, Rob Bauer, bei einer Pressekonferenz nach einem zweitägigen Treffen des Gremiums Ende Januar.
Vor dem Hintergrund von Russlands Großangriff auf die Ukraine, der sich im Februar zum zweiten Mal jährt, sagte der Norweger Erik Kristoffersen, es gebe jetzt ein „Zeitfenster, das vielleicht ein, zwei oder drei Jahre dauert, in dem wir noch mehr in eine sichere Verteidigung investieren müssen“, so der Befehlshaber der norwegischen Streitkräfte nach Angaben der Tageszeitung „Dagbladet“ aus Oslo. Und im Nachbarland Schweden forderte der Oberbefehlshaber Micael Bydén seine Landsleute und die Politik auf, von „Verständnis zu Taten überzugehen“.
Appel der Militärs an die Politik
Fachleute sehen darin einen Appell der Militärs an die Politik in Europa für einen Strategiewechsel im Konflikt mit Russland. Die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges in der Ukraine mithilfe von westlichen Waffenlieferungen auf der einen Seite und Sanktionen gegen die russische Kriegswirtschaft auf der anderen habe sich nicht erfüllt, sagt der deutsche Sicherheitsexperte Nico Lange im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Was Militärs wie Analysten umtreibt, ist vor allem der Mangel an Munition, neues Kriegsgerät und der Stand der Produktionskapazitäten in Europa.
Hier ist das Potential der militärischen Abschreckung der Nato eng verwoben mit den Lieferungen an die Ukraine. Die EU hatte vergangenes Jahr versprochen, der Ukraine bis März eine Million Granaten zu liefern. Der Plan scheiterte.
Nach Ansicht von Ukraine- und Russlandkenner Lange, der auch für die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) arbeitet, hat zum Beispiel die deutsche Regierung zu spät Übernahmegarantien gegenüber den Herstellern ausgesprochen.
„Das macht man jetzt nach zwei Jahren“, so Lange. Dabei sei der Bedarf nicht nur in der Ukraine, sondern auch in den geleerten Munitionslagern der Nato-Staaten hoch.
Investitionen in Drohnen, Munition, Kampffahrzeuge
Die Nato habe im schlechtesten Falle nur fünf Jahre Zeit, um so aufzurüsten, dass das Abschreckungspotential gegenüber Russland noch ausreiche, um einen möglichen Angriff auf Nato-Gebiet erfolgreich abzuschrecken. Das hatte bereits Ende 2023 der Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Christian Mölling, in einer viel beachteten Analyse dargelegt.
Und Gustav Gressel von der europäischen Denkfabrik ECFR (European Council on Foreign Relations) schreibt in einer aktuellen Analyse: „Der Westen und insbesondere die Europäer müssen ihre Finanzvorschriften überarbeiten und Größenvorteile schaffen, um die Produktion von Drohnen, Munition, gepanzerten Kampffahrzeugen und vielem mehr radikal zu fördern.“
Gressel sieht die Strategie, der Ukraine vor allem vertraute Waffen aus Sowjetproduktion aus den Lagern der Staaten Ostmitteleuropas zu liefern, an ihr Ende angelangt. Es sei schlicht nichts mehr vorhanden. Die Rüstungsproduktion müsse massiv hochgefahren werden – für die Ukraine wie für die Nato-Staaten in Europa.
Taktische Rückzüge der Ukraine von bereits befreitem Land?
Militärs wie Analysten blicken in diesem zweiten Kriegswinter in der Ukraine vor allem auf die Unterlegenheit der ukrainischen Streitkräfte im Artilleriekampf mit Russland, das offensichtlich eigene Lücken auch mit Lieferungen aus Nordkorea füllen kann, während die Ukraine die Geschosse rationieren muss.
Das Verhältnis liege derzeit bei einer ukrainischen Granate auf fünf russische Abschüsse, sagt der Analyst Michael Kofman vom US-amerikanischen Center for Naval Analysis (CNA) in einem aktuellen Podcast der Reihe „War on the Rocks“. Pessimistischere Analysen sprechen von einem Verhältnis von eins zu zehn.